Warum gilt Vermeers "Mädchen mit dem Perlohrring" als Meisterwerk? - James Earle

Vollständige Lektion: http://ed.ted.com/lessons/why-is-vermeer-s-girl-with-the-pearl-earring-considered-a-masterpiece-james-earle

Ist sie dir zu- oder von dir abgewandt? Daran scheiden sich die Geister. Sie ist das geheimnisvolle Motiv des "Mädchens mit dem Perlohrring" – ein Gemälde des niederländischen Meisters Johannes Vermeer, das oft als "Mona Lisa des Nordens" betitelt wird. Aber was genau macht die Faszination dieses Bildes aus? James Earle erklärt, inwiefern dieses Werk die Geburt eines modernen Blicks auf Wirtschaft, Politik und Liebe verkörpert.

Ist sie dir zu- oder von dir abgewandt?

Daran scheiden sich die Geister.

Sie ist das geheimnisvolle Motiv
des Gemäldes von Johannes Vermeer:

Das "Mädchen mit dem Perlohrring",

das oft als "Mona Lisa
des Nordens" bezeichnet wird.

Es gehört zu den niederländischen Tronies,

einer idealisierten und sehr
expressiven Bildgattung,

und besticht durch seine
Anziehungskraft und Nuanciertheit,

die typisch für Vermeers Schaffen ist.

Es sondert sich jedoch von
den ruhigen, erzählerischen Szenarien ab,

die wir in vielen seiner Gemälde
von weitem betrachten können:

"Ein Mädchen, das einen Brief liest",

"Eine Klavierstunde",

"Eine Porträtmalerin bei der Arbeit".

Diese Bilder wirken intim
und bewahren doch ihre Distanz --

eine Trennung, die oft durch
zugezogene Vorhänge symbolisiert wird.

Wir sehen, wie ein Milchmädchen
eine Schüssel mit Milch füllt,

aber die Milch ist nicht für uns.

Wir sind nur Außenstehende.

Dank ihrer durchdachten Zusammensetzung

erwecken Vermeers Gemälde
ein Gefühl von Harmonie.

Mit dem oft präsenten Schachbrettboden

beweist er, dass er ein Auge
für perspektivische Verkürzung hat.

Diese Technik erzeugt
durch Verzerrung die Illusion,

dass ein Objekt in die Ferne rückt.

Andere Elemente wie Sichtlinien,
Spiegel und Lichtquellen

beschreiben den Moment
mittels Raum und Position.

Die Frau, die am offenen Fenster
einen Brief liest,

ist exakt so platziert, dass das Fenster
sie zum Betrachter reflektieren kann.

Vermeer opferte schon
ein Bein einer Staffelei

für den Zweck der Harmonie.

Das "Mädchen mit dem Perlohrring" aber
lebt von der Abwesenheit dieser Elemente.

Vermeer bedient sich des Chiaroscuro

in Form eines dunklen,
flachen Hintergrundes,

um die Dreidimensionalität
des Mädchens zu betonen.

Es ist nicht Teil der Erzählung
eines Theaterstücks,

sondern ein Wesen,
das unsere Psyche anspricht.

Der Blick und die leicht
geöffneten Lippen wirken,

als wolle es uns etwas sagen,
und ziehen uns in ihren Bann.

Porträts bildeten traditionell
Adlige oder religiöse Gestalten ab.

Warum also malte Vermeer
ein unbekanntes Mädchen?

Im 17. Jahrhundert hatte sich
die Stadt Delft, wie der Rest des Landes,

von dem regierenden Adel
und der katholischen Kirche abgewandt.

Nach acht Jahrzehnten
der Rebellion gegen Spanien

bevorzugten die Niederländer
das Konzept der Selbstbestimmung

und eine politische Republik.

Städte wie Delft wurden nicht
von Königen oder Bischöfen verwaltet,

was viele Künstler wie Vermeer
ohne traditionelle Gönner ließ.

Zum Glück läuteten
wirtschaftliche Innovationen,

vor allem die der Niederländischen
Ostindienkompanie,

eine Verwandlung
der niederländischen Wirtschaft ein.

Es entstand der Stand der Kaufleute,
und damit eine neue Art von Mäzen.

Da die Gemälde, die diese finanzierten,
sie repräsentieren sollten,

bevorzugten sie Modelle
aus der Mittelschicht,

und die Umgebungen und Objekte
sollten an ihre eigenen angelehnt sein.

So galten die Landkarten
in Vermeers Werken

als modern und weltlich
unter den Kaufmännern

des goldenen Zeitalters der Niederlande.

"Das Mädchen mit dem Perlohrring"
trägt einen orientalischen Turban,

ein weiteres Symbol
für die Weltlichkeit der Kaufleute,

und die Perle selbst,
ein Sinnbild des Reichtums,

ist überzogen dargestellt.

Vermeer hätte sich keine echte Perle
von dieser Größe leisten können.

Es handelte sich dabei wohl bloß
um ein lackiertes Stück Glas oder Zinn.

Auch das Gemälde selbst spiegelt
diese Illusion von Reichtum wider.

Im gesamten Kontext wirkt
die Perle rund und schwer,

aber eine Detailaufnahme zeigt,
dass sie nur ein Farbfleck ist.

Von Nahem betrachtet, fühlen wir uns

an Vermeers illusorisches Können erinnert.

Auch wenn wir nie erfahren werden,
wer das "Mädchen mit dem Perlohrring" ist,

können wir auf unvergessliche Weise
mit seinem Porträt interagieren.

Im Mauritshuis-Museum in Den Haag,
wo es einen festen Platz hat,

ist seine Erscheinung gleichermaßen
durchdringend und subtil.

Auf seine geheimnisvolle Art
verkörpert es die Geburt

eines modernen Blicks
auf Wirtschaft, Politik und Liebe.