Es war der 8. April 2003, und ich war in Bagdad, um über den Irakkrieg zu berichten. Es war der Moment, als die Amerikaner mit ihren Panzern in Bagdad einfuhren. Wir waren ein paar Journalisten im Palestine Hotel, und -- Willkür des Kriegs -- nun kam er auf uns zu, unter uns, vor unseren Fenstern. Bagdad war voll von schwarzem Rauch, von Öl; es stank, man konnte nichts sehen, aber man sah doch das, was vor sich ging. Und ich sollte natürlich einen Artikel schreiben, so wie immer -- gleich am Tag des Geschehens. Ich war in meinem Zimmer im 16. Stock einerseits am Schreiben, aber ging doch ab und zu ans Fenster, um zu sehen, was da passierte. Und dann irgendwann gab es einen gewaltigen Schlag. Seit drei Wochen hatte es keine Bombardierungen durch Raketen und 500-Kilo-Bomben mehr gegeben, doch hier, diesen Einschlag, den konnte ich in meinem Körper spüren. Demnach war mir klar, dass es sehr, sehr nah passiert sein musste. Ich ging also runter, um nachzusehen, was geschehen war, runter in den 15. Stock, und ich sah schreiende Menschen in den Gängen, Journalisten. Ich ging in ein Zimmer und mir wurde klar, dass dieses Zimmer von einem Projektil getroffen wurde. Dort gab es auch einen Verwundeten. Gleich neben dem Fenster, da war ein Mann, ein Kameramann namens Taras Protsuyk, hier lag er, auf dem Bauch. Ich habe mal im Krankenhaus gearbeitet und wollte erste Hilfe leisten. Aber als ich ihn herum drehte, war er vom Brust- bis zum Schambein offen, ich sah jedoch überhaupt nichts. Ich sah nur einen weißen Fleck, schimmernd, strahlend, der mich blendete, und ich verstand nicht. Dann verschwand der Fleck und ich sah die schwere Verletzung. Mit ein paar Freunden legte ich ihn in ein Tuch. Wir trugen ihn in einen Aufzug, der in jedem der 15 Stockwerke hielt, legten ihn in ein Auto, das ihn ins Krankenhaus brachte. Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus, und der spanische Kameramann, José Couso, der selbst im 14. Stock war und ebenfalls getroffen wurde -- das Geschoss traf nämlich genau zwischen die beiden Stockwerke -- verstarb auf dem Operationstisch. Als ich zurückging, nachdem das Auto abgefahren war, hatte ich einen Artikel zu schreiben, den ich schreiben musste. Und so bin ich die Sache angegangen ... Ich ging zurück durch die Hotelhalle, die Arme voller Blut, und da traf ich auf einen irakischen Handlanger, der mich anhielt, um die zehn Tage Steuern einzufordern, die ich ihm noch schuldete. Ich habe ihn zum Teufel gejagt und mir gesagt: "Das musst du jetzt unbedingt ausblenden! Blende das aus! Wenn du schreiben willst, musst du das ausblenden." Das habe ich auch gemacht, ich ging nach oben und schrieb meinen Artikel, den ich dann auch abgeschickt habe. Danach aber, nach dieser Affekthandlung, hat der Fakt, einige Kollegen verloren zu haben, mich auf eine bestimmte Weise aus der Bahn geworfen: Ich sah wieder diesen Fleck, strahlend, schimmernd, und ich verstand nicht, was er zu bedeuten hatte. Und so ging der Krieg zu Ende ... Später sagte ich mir dann, dass das nicht sein kann. Ich kann nicht nicht wissen, was da passiert ist. Denn das war nicht das erste Mal; hier geht es auch nicht bloß um mich. Ich hatte bei anderen auch derartige Dinge wahrgenommen, in 20 oder 35 Jahren der Berichterstattung. Ich habe auch andere Dinge gesehen, die mir nahe gingen. Zum Beispiel im Libanon, da kannte ich einen Mann, einen Veteran, 25 Jahre alt, 5 Jahre im Krieg, weil er Veteran war, folgten wir ihm überall hin! Er war jemand, der sich nachts mit absoluter Sicherheit bewegte -- ein großer, wahrer Soldat! Daher folgten wir ihm, denn wir wussten, dass wir mit ihm sicher waren. Eines Tages wurde mir gesagt, und ich habe das geprüft, dass er gerade in der Kaserne Karten spielte, als jemand hinein kam, gleich nebenan, und seine Waffe abfeuerte. Der Schuss ging ins Leere, aber allein dieser einfache Knall hat ihn unter den Tisch kriechen lassen wie ein kleines Kind! Er zitterte, er geriet in Panik! Seither kam er nie mehr wieder auf die Beine, um zu kämpfen. Als ich ihn wieder traf, hatte er auch seinen Job als Croupier im Casino Beirut gekündigt, weil er nicht mehr schlief. Dabei war das eine Arbeit, die der Situation angepasst war. Ich begann mich also zu fragen, was das für eine Sache ist, die einen ohne sichtbare Verletzungen töten kann? Was geht da vor sich? Was ist das für eine unbekannte Sache? Und es trat zu häufig auf, als dass es hätte Zufall sein können. Ich begann daher, Nachforschungen anzustellen, das konnte ich schließlich. Ich machte mich an die Arbeit, und konsultierte Bücher, Psychiater, Museen, Bibliotheken usw. Schließlich entdeckte ich, dass es Menschen gab, die Bescheid wussten. Oft waren das militärische Psychiater. Und wir standen etwas gegenüber, das man Trauma nennt, -- im Englischen nennt man es PTSD, "Posttraumatische Belastungsstörung" -- das war etwas, das es in der Tat gibt, worüber nur niemand jemals spricht. Und was genau ist dieses Trauma? Es ist eine Begegnung mit dem Tod. Ich weiß nicht, ob Sie bereits dem Tod ins Gesicht gesehen haben, keine Leichen; ich meine nicht den toten Körper des Großvaters auf dem Krankenbett. Nein! Auch nicht eine Person, die auf der Straße überfahren wurde. Ich spreche hier von der Begegnung mit dem Nichts des Todes. Wir haben eigentlich nicht das Recht, es zu sehen. Die alten Griechen sagten: "Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen." Der Mensch hat nicht das Recht, dem Nichts des Todes ins Auge zu sehen. Und wenn das passiert, kann es für einige Zeit unsichtbar bleiben, für Tage, Wochen, Monate, manchmal auch für Jahre. Und dann bricht es plötzlich hervor, denn es ist eine Sache, die tief im Gehirn steckt, eine Art Fenster zwischen einem Bild und dem Gehirn, das sich im Gehirn eingenistet hat, das dort verblieben ist und den gesamten Platz in unserem Gehirn einnehmen wird. Da sind dann die Leute, Männer und Frauen, die plötzlich nicht mehr schlafen und entsetzliche Anfälle von Angst und Panik erleben! Richtige Panikattacken! Keine kurzen Schreckmomente. Menschen, die auf einmal nicht mehr schlafen wollen, da sie im Schlaf jede einzelne Nacht denselben Albtraum haben, jede Nacht dasselbe Bild. Welches Bild? Dieses Bild ist z. B. ein Kombattant, der in ein Gebäude vordringt und dort einem anderen Kombattanten begegnet, der auf ihn zielt. Er sieht den Gewehrlauf, blickt direkt in die Öffnung, und diese wird auf einmal riesengroß, verformt sich, wird plötzlich zu Watte und verschluckt alles. Danach sagt er: "Ich habe den Tod gesehen, ich habe mich tot gesehen, ich bin tot." Und von diesem Moment an weiß er, dass er tot ist. Das ist keine bloße Empfindung; er ist davon überzeugt, tot zu sein. Und dieser Gewehrlauf, einer von vielen, dass der andere nicht schießt, unwichtig, denn in diesem einen Moment ist er tot. Das kann auch der Geruch von Massengräbern sein. Davon habe ich viele in Ruanda gesehen. Das kann die Stimme eines Freundes sein, den man rufen hört, der gerade umgebracht wird und dem man nicht helfen kann. Man hört diese Stimme. Jede Nacht, über Wochen und Monate, wacht dieser Mann dann davon auf -- voller Angst und Schrecken, panisch, wie ein Kind. Ich habe einige Männer weinen sehen, wie kleine Kinder, wegen der wiederholten Konfrontation mit demselben Bild. Im Gehirn dieses Menschen aber wird dieses Bild des Grauens, das Nichts des Todes, welches man als Analogon bezeichnet, d. h. ein Bild, das etwas versteckt, wird alles bestimmen. Er kann überhaupt nichts mehr tun. Rein gar nichts. Er kann nicht mehr arbeiten, er kann nicht mehr lieben. Er kommt heim, erkennt niemanden mehr. Er erkennt sich selbst nicht mehr. Er versteckt sich, bleibt zu Hause, zieht sich komplett zurück! Ich kenne welche, die draußen kleine Dosen mit Kleingeld platziert haben, für den Fall, dass jemand vorbeikommt. Und plötzlich möchte er sterben, er möchte töten, er möchte sich verstecken, er möchte flüchten, er möchte geliebt werden, er hasst aber die Menschen, und irgendetwas ergreift von ihm Besitz, von morgens bis abends, und er leidet außerordentlich. Und die anderen verstehen ihn nicht! Die anderen sagen: "Aber du hast doch nichts! Dir geht's gut, hast keine Verletzungen, kamst unversehrt aus dem Krieg zurück." Diese Personen erleiden das Martyrium still und manche begehen gar Selbstmord: durch Selbstmord synchronisiert man ja lediglich Wirklichkeit mit Empfinden, weil ich ja ohnehin schon tot bin. Bringe ich mich um, passt das. Und der Schmerz hört auf. Manche bringen sich um, andere enden unter der Brücke, fangen an zu trinken... Wir alle haben diese Geschichte im Kopf, von diesem Großvater, diesem Onkel oder diesem Nachbarn, der trank, der nicht mehr sprach, der stets mürrisch war, der seine Frau schlug und der sein Ende im Suff oder im Tod gefunden hat. Und sie sprechen nicht darüber, wieso? Man spricht nicht darüber, warum? Weil es tabu ist! Es ist nicht so, als hätte der Mensch nicht die Worte, um vom Nichts des Todes zu sprechen. Die anderen aber können es nicht nachvollziehen! Zurück von der Arbeit hieß es anfangs noch: "Ah, da kommt der Reporter!" Beim Abendessen mit weißem Tischtuch, Kerzen und Gästen. "Los, berichte!" Ich begann zu erzählen. Nach 20 Minuten sahen mich alle schief an, die Dame des Hauses hatte die Nase im Aschenbecher, kurzum, die Leute waren entsetzt und mir wurde klar, dass ich den kompletten Abend ruiniert hatte. Deswegen erzähle ich heute nichts mehr, die Leute wollen das nicht hören und sagen: "Hör bloß auf!" Sind das nur Einzelfälle? Nein. Das tritt sehr häufig auf! Ein Drittel der Soldaten im Irak starb -- ähm, "starb'" verzeihen Sie den Fehler. Ein Drittel der irakischen Soldaten, Amerikaner im Irak, leidet an PTSD. 1939 gab es in britischen Psychiatrien noch 200 000 Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. In Vietnam hat es 54 000 tote Amerikaner gegeben. 1987 hat die amerikanische Regierung 102 000 -- zwei mal so viel -- 102 000 von Veteranen begangene Suizide verzeichnet -- doppelt so viele Gefallene wie in Vietnam selbst. Sie sehen, das ist eine Sache, die alle Bereiche abdeckt! Nicht bloß die heutigen Kriege, die vergangenen Kriege -- man findet sie in alten Aufzeichnungen, in unterschiedlichster Form! Warum spricht man nicht darüber? Warum hat man nicht darüber gesprochen? Denn das Problem ist doch, dass wenn dieser Mann nicht spricht, er zugrunde geht. Der einzige Weg der Behandlung, denn die gute Nachricht bei der Sache ist, dass es einen Ausweg gibt: "Der Schrei" von Munch, Goya etc. -- ja, es gibt Besserung! Die einzige Möglichkeit, dieses Trauma zu verarbeiten, -- diese Begegnung mit dem Tod, die Sie kalt erwischt, Sie lähmt, Sie tötet -- ist es zu schaffen, darüber zu sprechen. Es heißt schließlich: "Uns Menschen hält nur die Sprache zusammen." Wenn es keine Sprache mehr gibt, sind wir nichts mehr. Nur deswegen sind wir überhaupt Menschen. Und angesichts dieses Schreckensbildes, das nicht durch Worte beschrieben ist, denn es ist allein ein Bild dieses Nichts, das uns quält. Es in menschliche Worte zu fassen, ist die einzige Möglichkeit, damit zurechtzukommen. Denn diese Leute fühlen sich nicht mehr menschlich: Man will sie nicht mehr sehen und sie selbst wollen niemanden mehr sehen. Sie fühlen sich schmutzig, übel, beschämt. Einer sagte mal: "Wissen Sie, Doktor, ich fahre nicht mehr mit der Metro, weil ich Angst habe, dass die Leute all das Grauen in meinen Augen sehen." Ein anderer sagte -- er hatte eine schlimme Hautkrankheit, verbrachte 6 Monate in der Dermatologie -- er ging von einer Behandlung zur nächsten, bis er sagte, er möchte zum Psychiater überwiesen werden. In der zweiten Sitzung sagte er zum Psychiater (er hatte von Kopf bis Fuß diese schlimme Hautkrankheit) der Arzt fragte: "Aber wieso sind Sie in diesem Zustand?" Und der Mann antwortete: "Weil ich tot bin natürlich, deswegen zersetze ich mich." Sie sehen also, dass das eine Sache ist, die bis ins Tiefste des Menschen reicht. Um zu heilen, muss man darüber sprechen, das Grauen in Worte fassen, Worte von Menschlichkeit; versuchen, zu bezwingen, erneut darüber zu sprechen. Man muss dem Tod ins Gesicht schauen. Und wenn einem das gelingt, wenn man über diese Dinge spricht, in diesem Moment, Stück für Stück, durch diese Arbeit mit Worten, schafft man es auch, seinen Teil an Menschlichkeit wiederzuerlangen. Und das ist wichtig! Das Schweigen tötet uns! Was heißt das genau? Das heißt, dass nachdem ... ah, offensichtlich haben wir unsere unhaltbare Leichtigkeit des Seins verloren. Wir haben unser Gefühl von Ewigkeit verloren, das uns hier sein lässt. Wenn Sie hier sind, nützt Ihnen das Gefühl, ewig zu sein. Doch Sie sind es nicht! Aber andernfalls würden Sie sagen: "Was soll das Ganze?" Diese Menschen haben dieses Gefühl von Ewigkeit verloren. Sie haben ihre Leichtigkeit verloren. Aber sie haben etwas anderes wiedergefunden! Das heißt, schafft man es, dem Tod ins Gesicht zu blicken und diesem zu trotzen, anstatt zu schweigen und sich zu verstecken ... da sind diese Männer und Frauen, die ich kenne -- Michaël aus Ruanda, Carole aus dem Irak, Philippe aus dem Kongo, all diese Menschen, die ich kannte, Sorj Chalendon, der jetzt ein bekannter Schriftsteller ist und den Journalistenjob nach einem Trauma hingeschmissen hat. Ich habe 4 oder 5 Freunde, die sich das Leben genommen haben, aufgrund ihres Traumas. Schafft man es aber, sich dem Tod vor Augen zu widersetzen; wenn wir als sterbliche menschliche Wesen, als Sterbliche, als Menschen, wenn wir verstehen, dass wir menschlich und sterblich sind, so schaffen wir es, dem Tod zu trotzen und ihn wieder mit dieser Sache zu verbinden, die die unbekannteste aller unbekannten Welten ist, weil sie ja noch nie jemand gesehen hat. Wenn wir es schaffen, ihn damit zu verknüpfen, ja, dann können wir sterben, überleben und wieder leben, jedoch viel stärker, stärker als zuvor -- sehr viel stärker. Danke. (Applaus)