Jeder von uns hat seine Vorurteile. Einige von uns sind etwa der Meinung, dass es sehr schwierig ist, marode Regierungssysteme zu ändern. Wir halten Regierungssysteme allgemein für veraltet und verkrustet und die Führungsriege wohl für zu bürokratisch, um etwas ändern zu können. Heute möchte ich diese Theorie anfechten. Ich erzähle Ihnen die Geschichte eines sehr großen Regierungssystems, das nicht nur Reformen in Angriff nimmt, sondern auch ziemlich spektakuläre Ergebnisse vorweisen kann, und das nach knapp 3 Jahren. So sieht in Indien ein Klassenzimmer in einer öffentlichen Schule aus. Es gibt dort mehr als 1 Million solcher Schulen. Und selbst mir, die ich schon immer in Indien lebe, bricht es fast das Herz, wenn ich in so eine Schule komme. 50 % der 11-jährigen Kinder sind in ihrem Lernfortschritt uneinholbar in Rückstand geraten. 11-Jähige schaffen keine einfachen Rechenaufgaben, sie können keinen grammatisch korrekten Satz bilden. Das würden Sie und ich aber von einem 8-Jährigen erwarten. Wenn die Kinder 13 oder 14 sind, brechen sie oft die Schule ab. In Indien bieten öffentliche Schulen nicht nur kostenlose Bildung, sondern auch lernmittelfreie Bücher, kostenlose Mahlzeiten, manchmal sogar Stipendien. Und doch nehmen heute 40 % der Eltern ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen und stecken sie in eine teure Privatschule. Zum Vergleich: In den weitaus wohlhabenderen USA beträgt diese Zahl nur 10 %. Das ist ein gigantisches Armutszeugnis für die öffentliche Bildung in Indien. Vor diesem Hintergrund erreichte mich im Sommer 2013 ein Telefonanruf von einer großartigen Frau namens Surina Rajan. Sie war damals Leiterin der Bildungsabteilung im indischen Staat Haryana. Sie sagte: "Seit 2 Jahren leite ich diese Abteilung. Ich habe einiges ausprobiert und nichts scheint zu funktionieren. Können Sie vielleicht helfen?" Ich möchte Ihnen Haryana ein bisschen beschreiben. Haryana ist ein Staat mit 30 Millionen Einwohnern. Es gibt 15.000 öffentliche Schulen mit mehr als 2 Millionen Kindern. Ich versprach also aufgrund dieses Telefonats, einen Staat und ein System in der Größe Perus oder Kanadas bei Änderungen zu unterstützen. Zu Beginn des Projekts waren mir zwei Dinge schmerzlich bewusst. Erstens, dass ich so etwas noch nie gemacht hatte. Zweitens, dass es viele andere mit nur mäßigem Erfolg versucht hatten. Meine Kollegen und ich sahen uns im Land und auf der ganzen Welt um, fanden aber kein Beispiel, das wir einfach hätten aufgreifen und in Haryana umsetzen können. Wir würden also unseren eigenen Weg finden müssen. Wir machten uns sofort an die Arbeit und schon prasselten alle möglichen Ideen auf uns ein. Die Leute sagten: "Werbt Lehrer nach anderen Kriterien an, stellt neue Schulleiter ein, lernt sie an und schickt sie auf internationale Fortbildungen, stattet die Klassenräume technisch aus." Nach der ersten Woche hatten wir 50 Ideen vorliegen, alle großartig, alle einleuchtend. Doch wir waren nicht in der Lage, 50 Dinge umzusetzen. Also sagte ich: "Halt. Als erstes sollten wir entscheiden, was wir erreichen möchten." Und nach vielem Hin und Her setzte sich Haryana folgendes Ziel: Bis zum Jahr 2020 sollen 80 % der Kinder auf dem Wissensstand ihrer Klassenstufe sein. Einzelheiten dieses Ziels sind hier unwichtig, aber es spielt eine Rolle, wie konkret das Ziel ist. Denn dadurch konnten wir all diese Ideen aufgreifen, die ständig hereinkamen, und festlegen, welche wir umsetzen wollten. Unterstützt diese Idee dieses Ziel? Wenn ja, dann nehmen wir sie. Sonst oder wenn wir uns nicht sicher sind, verwerfen wir sie. So einfach es klingt: Dank eines sehr konkreten Ziels ist es uns gelungen, bei unserem Änderungsprozess klar und konzentriert vorzugehen. Und im Rückblick auf die letzten zweieinhalb Jahre war das für uns ein Riesenvorteil. Wir hatten also das Ziel und jetzt mussten wir die Probleme und Defizite benennen. Bevor wir in die Schulen gingen, hörten wir immer wieder, die Bildungsqualität sei schlecht, weil die Lehrer entweder faul seien und nicht in die Schule kämen oder unfähig und nicht wüssten, wie man unterrichtet. Doch bei unseren Schulbesuchen merkten wir, dass das nicht stimmte. An den meisten Tagen waren die meisten Lehrer wirklich in der Schule. Und im Gespräch wurde uns klar, dass sie sehr wohl in der Lage waren, Grundschulklassen zu unterrichten. Aber sie hielten keinen Unterricht. Ich kam in eine Schule, wo die Lehrer den Bau eines Klassenraums und einer Toilette beaufsichtigten. In einer anderen Schule waren gerade zwei Lehrer zu einer Bank in der Nähe gegangen, um Stipendiengelder auf Schülerkonten einzuzahlen. Die Mittagspause verbrachten die meisten Lehrer damit, die Zubereitung und Ausgabe des Essens an die Schüler zu beaufsichtigen. Also fragten wir sie: "Was ist los, warum unterrichtet ihr nicht?" Und sie sagten: "Das wird von uns erwartet." Wenn ein Inspektor zu uns kommt, dann überprüft er genau diese Dinge: Ist die Toilette in Ordnung, wurde das Essen ausgegeben? Auf Schulleiter-Treffen bei der vorgesetzten Behörde werden genau diese Dinge besprochen." In den letzten zwei Jahrzehnten war also Folgendes passiert: Indien hatte sich für den Zugang zur Bildung eingesetzt, für genug Schulen, für Anmeldungen; dafür, Kinder in die Schulen zu bringen. Also startete die Regierung eine ganze Reihe Programme, um das in Angriff zu nehmen, und die Lehrer wurden indirekt zu Umsetzern dieser Programme. Nicht explizit, aber indirekt. Und was nun gebraucht wurde, war nicht die Weiterbildung der Lehrer oder die Kontrolle ihrer Anwesenheit, sondern der dringende Appell an sie, ins Klassenzimmer zurückzukehren und zu unterrichten. Sie sollten aufgrund der Unterrichtsqualität beobachtet, beurteilt und belohnt werden, und nicht aufgrund anderer Dinge. Als wir das Bildungssystem durchforsteten, uns genauer damit befassten, stießen wir auf einige grundlegende Dinge, die das Verhalten der Menschen innerhalb des Systems beeinflussten. Und wir verstanden: Nur wenn wir diese speziellen Dinge änderten, könnten wir auch anderes anpacken. Wir könnten zwar fortbilden, Schulen technisch ausstatten, aber das System würde sich nicht ändern. So wurde die Beschäftigung mit diesen sekundären Kernproblemen zum Herzstück des Programms. Wir hatten also das Ziel und die Problempunkte und mussten jetzt Lösungen finden. Natürlich wollten wir das Rad nicht neu erfinden, also sagten wir: "Sehen wir mal, was wir finden können." Und wir stießen auf fantastische kleine Pilotprojekte im ganzen Land und auf der ganzen Welt. Kleinprojekte von NGOs und von Stiftungen. Allerdings fiel uns auf: Keines davon wurde flächendeckend eingeführt. Alle waren auf 50, 100 oder 500 Schulen begrenzt. Aber wir suchten nach einer Lösung für 15.000 Schulen. Also fragten wir uns: "Wenn diese Dinge funktionieren, warum werden sie nicht zur Norm?" Wenn eine typische NGO auftaucht, liefert sie nicht nur Fachwissen, sondern auch zusätzliche Ressourcen. Das kann Geld sein, Personal oder Technik. Und in den 50 oder 100 Schulen, in denen sie aktiv ist, bewirken diese zusätzlichen Mittel tatsächlich etwas. Aber stellen Sie sich vor, der Chef einer NGO geht zum Leiter der Bildungsabteilung und sagt: "Wir sollten das für 15.000 Schulen tun." Wo findet dieser Mensch das Geld, um 15.000 Schulen derart auszustatten? Er hat weder die Extra-Mittel noch die Ressourcen. Man kann also Neuheiten nicht zur Norm machen. Deshalb sagten wir uns zu Beginn des Projekts: "Egal, was wir tun, es muss flächendeckend gelten und in allen 15.000 Schulen funktionieren." Also muss es im Rahmen des Budgets und der Ressourcen funktionieren, über die der Staat verfügen kann. Leichter gesagt als getan. (Gelächter) Ich glaube, genau zu diesem Zeitpunkt hat mich mein Team gehasst. Wir verbrachten viele Stunden im Büro, in Cafés, manchmal sogar in Bars, kratzten uns am Kopf und sagten: "Wie können wir dieses Problem lösen?" Schließlich fanden wir auf viele Fragen eine Lösung. Hier ein Beispiel. Beim Thema "Effektives Lernen" spricht man u. a. vom praktischen Lernen. Die Kinder sollten nicht auswendig lernen, sondern aktiv werden, weil das mehr Lernerfolg bringt. Im Grunde heißt das: Gebt den Schülern Dinge wie Kügelchen, Cuisenaire-Stäbchen, Abakusse. Aber wir hatten nicht die Mittel für 15.000 Schulen und 2 Millionen Kinder. Wir brauchten eine andere Lösung. Uns fiel nichts ein. Eines Tages beobachtete eines unserer Teammitglieder, wie ein Lehrer Stöckchen und Steine im Schulgarten sammelte, sie mit ins Klassenzimmer brachte und den Schülern gab. Das war ein großes Aha-Erlebnis für uns. Deshalb gibt es jetzt in Haryana in den Schulbüchern nach jeder Unterrichtseinheit einen kleinen Kasten mit folgenden Anweisungen für den Lehrer: "Als didaktische Hilfe finden Sie hier eine Aktivität. Zur praktischen Umsetzung der Aktivität finden Sie hier Dinge aus Ihrer unmittelbaren Umgebung, die Sie nutzen können, z. B. aus dem Garten oder dem Klassenzimmer, als Lernhilfen für die Kinder." Nun nutzen Lehrer in ganz Haryana viele innovative Dinge, um unterrichten zu können. So konnten wir all das, was wir planten, tatsächlich vom ersten Tag an in allen 15.000 Schulen umsetzen. Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Wie setzt man etwas in 15.000 Schulen und bei 10.000 Lehrern um? In der Abteilung gab es einen interessanten Prozess, den ich gern als "Kette der Hoffnung" bezeichne. Man schickte einen Brief von der obersten Behörde an die nächste Instanz, die Regionalämter, in der Hoffnung, dass dort ein Beamter den Brief erhalten, öffnen, lesen und anschließend an die nächste Instanz schicken würde, nämlich die Distriktämter, auch hier in der Hoffnung, dass jemand den Brief erhalten, öffnen, lesen und schließlich an die 15.000 Schulleiter weiterleiten würde. Und dann hoffte man, dass die Schulleiter den Brief erhalten, verstehen und umsetzen würden. Das war ein wenig lächerlich. Wir wussten: Technik war die Lösung, aber die meisten Schulen haben weder Computer noch E-Mail. Was die Lehrer allerdings haben, sind Smartphones. Sie schicken ständig SMS, sind auf Facebook oder WhatsApp. Also haben in Haryana alle Schulleiter und Lehrer Hunderte von WhatsApp-Gruppen gebildet. Wenn etwas mitgeteilt werden muss, wird es in allen WhatsApp-Gruppen gepostet. Das geht rasend schnell. Man kann sofort feststellen, wer es bekommen hat und wer es gelesen hat. Die Lehrer können sofort nachfragen, wenn etwas unklar ist. Es ist auch interessant, dass nicht nur die vorgesetzte Behörde diese Fragen beantwortet. Oft meldet sich ein Lehrer aus einem ganz anderen Landesteil und beantwortet die Frage. Jeder dient den anderen als Bezugsgruppe und Ideen werden umgesetzt. Heute ist die Situation an Haryanas Schulen also ganz anders. Die Lehrer stehen wieder vor ihren Klassen und unterrichten, oft mit innovativen Methoden. Wenn eine Inspektion kommt, wird nicht nur der Bau der Toiletten geprüft, sondern auch die Unterrichtsqualität. Zweimal pro Halbjahr wird im gesamten Staat der Lernerfolg aller Schüler gemessen. Erfolgreiche Schulen werden belohnt und weniger erfolgreiche müssen sich rechtfertigen. Natürlich bekommen sie auch Unterstützung, um sich zu steigern. Im Bildungswesen ist es schwer, schnelle Ergebnisse zu erzielen. Wenn man von systemischem Wandel auf breiter Basis spricht, meint man Zeiträume von 7 oder 10 Jahren. Aber nicht in Haryana. Im letzten Jahr wurden drei unabhängige Studien durchgeführt, um den Lernfortschritt zu messen. Sie zeigen, dass in Haryana etwas Grundlegendes, etwas Einzigartiges geschieht. Das Lernniveau der Kinder sinkt nicht weiter ab, sondern beginnt zu steigen. Haryana ist einer der wenigen Staaten des Landes, wo sich etwas verbessert. Es ist sicher der Staat mit den schnellsten Fortschritten. Noch sind das frühe Signale, der Weg ist noch weit, doch das gibt uns viel Hoffnung für die Zukunft. Kürzlich war ich in einer Schule und als ich wieder ging, begegnete mir eine Frau namens Parvati. Sie hatte ein Kind und sie lächelte. Ich sagte: "Warum lächeln Sie, was ist los?" Sie antwortete: "Ich weiß nicht, was los ist, aber ich weiß, dass meine Kinder lernen, es macht ihnen Spaß und deshalb suche ich momentan nicht weiter nach einer Privatschule." Ich kehre nun zu meinem Einstieg zurück: Können sich Regierungssysteme ändern? Ja, ich bin davon überzeugt. Wenn man ihnen die richtigen Mittel gibt, können sie Berge versetzen. Dankeschön. (Applaus)