Würde Mathematik existieren, wenn es keine Menschen gäbe? Seit der Antike diskutiert die Menschheit darüber, ob Mathematik entdeckt oder erfunden wurde. Haben wir Mathematik erschaffen, um das Universum um uns herum zu verstehen oder ist Mathematik die Muttersprache des Universums selbst, die existiert, egal ob wir ihre Gesetze entdecken oder nicht? Sind Zahlen, Polygone und Gleichungen wirklich real oder nur flüchtige Abbildungen eines theoretischen Ideals? Die unabhängige Realität von Mathematik hat bereits antike Befürworter. Im 5. Jahrhundert glaubten die Pythagoreer in Griechenland, dass Zahlen sowohl lebendige Wesen als auch universale Prinzipien seien. Die 1 nannten sie "die Monade", die Erzeugerin aller anderen Zahlen und Quelle der Schöpfung. Zahlen waren ein aktiver Bestandteil der Natur. Plato argumentierte, dass mathematische Konzepte greifbar und ebenso real wie das Universum seien, unabhängig davon, ob wir sie kennen. Euklid, Vater der Geometrie, glaubte, dass die Natur selbst die physische Erscheinungsform mathematischer Gesetze sei. Andere sagen, dass, auch wenn Zahlen eventuell physisch existieren könnten, dasselbe nicht für mathematische Aussagen gilt. Deren Wahrheitsgehalt basiert allein auf von Menschen geschaffenen Regeln. Damit wäre Mathematik eine erfundene Übung in Logik, die außerhalb des menschlichen Verstandes nicht existiert; ein System abstrakter Beziehungen, auf vom Hirn erkannten Mustern basierend, das diese Strukturen nutzt, um nützliche, aber künstliche Ordnung ins Chaos zu bringen. Ein Befürworter dieser Idee war Leopold Kronecker, ein deutscher Mathematikprofessor aus dem 19. Jahrhundert. Seine Sicht fasste er in einem berühmten Satz zusammen: "Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk." Zu Lebzeiten des Mathematikers David Hilbert gab es Bemühungen, Mathematik als Konstrukt der Logik zu etablieren. Hilbert versuchte die Mathematik vollständig zu axiomatisieren, wie es Euklid mit der Geometrie getan hatte. Er und andere, die dasselbe versuchten, verstanden Mathematik als ein zutiefst philosophisches Spiel, aber eben nur ein Spiel. Henri Poincaré, einer der Väter der nicht-euklidischen Geometrie, glaubte, dass die Existenz von nicht-euklidischer Geometrie, die sich mit Flächen hyperbolischer und elliptischer Krümmungen beschäftigt, bewies, dass euklidische Geometrie, die langjährige Geometrie ebener Flächen, keine universale Wahrheit sei, sondern nur ein Ergebnis, wenn man sich an bestimmte Spielregeln hielt. 1960 prägte der Nobelpreisträger für Physik, Eugene Wigner, die Aussage über "die unglaubliche Wirksamkeit der Mathematik", und setzte sich stark für die Idee ein, dass Mathematik real war und vom Menschen entdeckt wurde. Wigner wies darauf hin, dass viele rein mathematische Theorien häufig für sich entstanden, ohne physische Phänomene beschreiben zu wollen, und sich Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später als wichtige Grundlagen herausstellten, um erklären zu können, wie das Universum seit jeher funktioniert. Zum Beispiel half die Zahlentheorie des britischen Mathematikers Gottfried Hardy, der damit prahlte, dass seine Arbeit niemals in der Lage wäre, Phänomene der wirklichen Welt zu beschreiben, dabei die Kryptographie zu entwickeln. Ein anderer Teil seiner rein theoretischen Arbeit wurde als Hardy-Weinberg-Gesetz in der Genetik bekannt und gewann einen Nobelpreis. Fibonacci stieß zufällig auf seine berühmte Sequenz, während er sich die Wachstumsrate einer idealisierten Kaninchenpopulation ansah. Später fand man diese Sequenz überall in der Natur, angefangen bei Sonnenblumenkernen und Blütenverteilungen bis hin zur Struktur einer Ananas und der Verzweigung der Bronchien in der Lunge. Oder die nicht-euklidische Forschung von Bernhard Riemann aus den 1850ern, die Einstein hundert Jahre später für sein Modell der allgemeinen Relativität nutzte. Hier ist ein noch größerer Sprung: Die mathematische Knotentheorie, die zuerst um 1771 entwickelt wurde, um die Geometrie der Lage zu beschreiben, wurde im späten 20. Jahrhundert genutzt, um zu erklären, wie sich DNA während der Replikation selbst auftrennt. Sie könnte sogar wichtige Erklärungen für die Stringtheorie bieten. Einige der einflussreichsten Mathematiker und Wissenschaftler der Geschichte haben sich zu diesem Thema geäußert, häufig auf überraschende Weise. Ist Mathematik also eine Erfindung oder eine Entdeckung? Künstliches Konstrukt oder universelle Wahrheit? Menschliches Erzeugnis oder natürliche, vielleicht sogar göttliche, Schöpfung? Diese Fragen gehen so tief, dass die Debatte häufig zur Glaubensfrage wird. Die Antwort könnte vom Konzept abhängen, das man betrachtet. Aber alle fühlen sich wie verzerrte Zen-Sinnsprüche an. Wenn eine bestimmte Anzahl an Bäumen im Wald steht, aber niemand sie zählt, existiert die Zahl dann?