Herr Tsipras, in Griechenland gibt es inzwischen eine
neue Einkommenssteuer, eine Kopfsteuer, eine
Immobiliensteuer, und nun erneut Steuererhöhungen.
Wie hoch ist die Belastung für die Menschen?
In Griechenland wird seit vielen Jahren die Armut
besteuert, während dem Kapital die Steuern erlassen
werden. Das Ergebnis ist, dass diese Steuern nicht
effizient wirken. Zudem können die Menschen nicht
mehr konsumieren. Auch vor diesem Hintergrund
kann die Besteuerung nicht effizient sein.
Und das große Problem: Das Gefühl der sozialen
Ungerechtigkeit im griechischen Volk wächst, weil
die Steuern einseitig die Armen belasten.
Die Wohlhabenden setzten aber weiterhin auf
Steuerflucht bei Schweizer Banken. Ich nenne nur
das Stichwort der Lagarde-Liste.
Was unternimmt die Regierung in Griechenland
gegen Steuer- und Kapitalflucht?
Was die Regierungen bis heute außerordentlich gut
vermocht haben, ist, diese Listen in den Schubladen
geheim zu halten. Wie ein Buch mit sieben Siegeln.
Sie tun also nichts, damit dieses jahrelang währende
System der Staatsplünderung beendet wird.
Das ist einer der hauptsächlichen Gründe, die
uns in den Bankrott geführt haben. Denn seit
mehr als einem Jahrzehnt beträgt der Durchschnitt
der Staatseinnahmen in Griechenland viel weniger
als im gesamten Raum der Europäischen Union.
Das lag auch an der Tatsache, dass die Reichen
keine Steuern gezahlt haben. Das muss sich ändern,
wenn wir einen Weg aus der Krise ebnen wollen.
Sie plädieren unter anderem für eine Tobin-Steuer
Welche Steuerpolitik will Syriza darüber hinaus?
Wir streben in erster Linie an, dass die Steuerfreiheit
für die reiche Elite beendet wird. Es ist kein Zufall,
dass in diesen berühmten Listen der Steuerflüchtlinge
all jene – in Anführungsstrichen – wichtigen Namen
vorkommen. All jene, die aus starken Positionen
das Schicksal des Landes bestimmt haben.
Unter diesen Namen finden wir Medienbosse,
Bankiers oder Großunternehmer. Es sind Personen,
die eng mit den wirtschaftlichen und politischen
Strukturen des Landes verwoben sind. Deshalb
fordern wir, dass sie auch für die Krise bezahlen.
Gleichzeitig braucht der Mittelstand Luft zum Atmen.
Er kann keine weitere Besteuerung mehr tragen.
Schauen Sie sich die Erhöhung der Heizölsteuer an.
Das ist ein klassisches Beispiel für das Scheitern
der aktuellen Politik. Die Menschen haben
schlichtweg aufgehört, Heizöl zu kaufen.
Sie nutzen nun zum Heizen alles was sie finden.
Die Wälder werden abgeholzt. Es besteht die Gefahr,
dass Menschen den Kältetod erleiden oder durch die
starke Benutzung von Holzöfen in ihrem eigenen
Heim tödliche Brände verursachen. Währenddessen
sind die Steuern, die der Staat einnimmt, stärker
zurückgegangen, als in Zeiten, in denen die
Besteuerung niedriger war.
Am Montag haben Sie in Berlin Finanzminister
Schäuble getroffen. Was haben Sie besprochen?
Ich habe ihm die Realität geschildert. Ich habe
ihm gesagt, dass Griechenland vor einer humanitären
Krise steht, und dass es als Resultat dieser Politik
eine sehr große Gefahr sozialer Spannungen gibt.
Zudem gibt es die Gefahr des Zulaufs für Neonazis,
während wir jedoch keine Verbesserungen sehen.
Das Programm ist gescheitert. Und ein neuer
Schuldenschnitt ist für Griechenland unausweichlich.
Deshalb habe ich dem „Architekten“ dieser Strategie
zu erklären versucht, dass die Ideen gescheitert sind.
Es wäre zum Vorteil der Griechen, aber auch der
Deutschen, diese Strategie zu korrigieren, bevor
es zu spät ist.
Nach Griechenland benötigen nun auch die Banken in
Zypern Finanzhilfen von der Europäischen Union.
Sehen Sie einen Unterschied zu Griechenland?
Es gibt da sicher viele und erhebliche Unterschiede.
Der erste Unterschied ist, dass es zwei nicht
vergleichbare Wirtschaften sind. Griechenland ist viel
größer als Zypern. Der zweite Unterschied ist, dass
sie in Zypern nicht das Problem der Staatsschulden
hatten, wie wir es in Griechenland aufgrund der
Regierungspolitik der vergangenen Jahre haben.
Aber hier und dort haben das Problem die Banken
verursacht. Sie haben ein weiteres Land dazu
verdammt, am Rande des Bankrotts zu stehen.
Hier stellt sich also eine übergeordnete Frage, die
Griechenland betrifft, aber auch Zypern, Italien,
Spanien, Portugal und ganz Europa. Werden wir dem
Bankensystem in Europa gestatten, die Gesellschaft
die Politik, die Stabilität, den sozialen Zusammenhalt
wie ein großes schwarzes Loch zu zerstören?
Oder werden wir Grenzen setzen? Oder werden
wir die Schulden von den Bankiers bezahlen lassen,
so dass die Völker ihren sozialen Zusammenhalt
bewahren können? Das ist die große Frage. Und ich
glaube, dass die Zeit für diese Frage gekommen ist.
Die Zeit ist reif, Antworten darauf zu geben.
In Griechenland haben wir knapp 200 Milliarden Euro
Gelder und Garantien in Banken gesteckt. Die Banken
haben wir gerettet. Aber leider haben wir nicht die
Gesellschaft gerettet. Wir haben nicht das
griechische Volk gerettet.
Herr Tsipras, Sie haben am Sonntag in Berlin den
Vorstand der Europäischen Linkspartei getroffen.
Am Morgen haben Sie an dem traditionellen
Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
teilgenommen. Welchen Eindruck hatten Sie davon?
Es ist nicht das erste Mal, dass ich an dieser
Veranstaltung teilnehme, es ist das dritte Mal.
Denn ich glaube, dass es wichtig ist, sich an die
Geschichte zu erinnern, an die politische Geschichte
Deutschlands, die mit der europäischen Geschichte
einhergeht. Hier haben sich die großen Ideen der
sozialen Befreiung mit der Wegbereiterin, dieser
großen Persönlichkeit Rosa Luxemburg, entwickelt.
Es spielt eine große Rolle, sich zu erinnern.
Denn die Diskrepanz, die wir heute erleben, resultiert
aus der Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit.
Wir müssen realisieren, dass die Ideologien nicht
verloren sind. Gescheitert sind die Versuche, die
Ideologien in Schubladen zu stecken und aus ihnen
„-ismen“ zu machen. Die Ideen von Marx, von Rosa
sind nicht verloren. Verloren ist der Versuch, aus
ihnen eine Religion zu machen. Wir sollten also in
die Vergangenheit schauen, um Schlussfolgerungen
für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen.
Vielen Dank, Alexis.