Ich habe die Worte meiner Großmutter niemals vergessen, die im Exil ums Leben gekommen ist: "Son, leiste Gaddafi Widerstand. Bekämpfe ihn. Aber werde niemals zu so etwas wie einem Gaddafi-Revolutionär." Es sind nun fast zwei Jahre vergangen, seit die libysche Revolution ausgebrochen ist, inspiriert von den Wellen der Massenaufbietungen sowohl in der tunesischen als auch in der ägyptischen Revolution. Ich verbündete mich mit vielen anderen Libyern, innerhalb und außerhalb Libyens, um einen Tag des Zorns einzufordern und um eine Revolution gegen das tyrannische Regime Gadaffis zu starten. Und da war sie, eine große Revolution. Junge, libysche Frauen und Männer standen in der ersten Reihe, forderten das Ende des Regimes, hielten Slogans der Freiheit, Würde und sozialer Gerechtigkeit in die Luft. Sie haben beispielhaften Mut bewiesen, indem sie sich gegen die brutale Diktatur Gaddafis gestellt haben. Sie haben einen starken Sinn für Solidarität gezeigt, vom fernen Osten über den fernen Westen, bis in den Süden. Schließlich, nach einem Zeitraum von sechs Monaten brutalen Krieges und fast 50.000 Toten, gelang es uns, unser Land zu befreien und den Tyrannen zu stürzen. (Applaus) Gaddafi hat jedoch eine große Bürde hinterlassen, ein Vermächtnis der Tyrannei, der Korruption und die Grundlage für Kurswechsel. Über vier Jahrzehnte hat Gaddafis tyrannisches Regime sowohl die Infrastruktur, als auch die Kultur und die moralische Struktur der lybischen Gesellschaft zerstört. Der Verwüstung und den Herausforderungen bewusst, brannte ich, wie so viele andere Frauen darauf, die Zivilgesellschaft Lybiens wieder aufzubauen. Wir forderten einen mitbestimmten und gerechten Übergang zu Demokratie und nationalem Ausgleich. Nahezu 200 Organisationen wurden während und unmittelbar nach dem Fall Gaddafis in Benghazi gegründet, fast 300 in Tripolis. Nach 33 Jahren im Exil, kam ich zurück nach Lybien, und mit einzigartigem Enthusiasmus begann ich Workshops zu den Themen Kapazitätsbildung, menschlicher Entwicklung und Führungskompetenzen zu organisieren. Mit einer wunderbaren Gruppe von Frauen gründete ich die Friedensplattform Libyscher Frauen, eine Bewegung von Frauen, Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen Lebensbereichen, deren Ziel es ist, öffentlich für die soziopolitische Stärkung der Frauen einzustehen und für unser Recht auf gleichwertige Mitbestimmung bei der Demokratie- und Friedensbildung. Bei den Vorwahlen traf ich auf ein sehr schwieriges Umfeld, ein Umfeld, das immer stärker polarisierte. Ein Umfeld, das von der egoistischen Politik von Dominanz und Ausschluss geprägt war. Ich leitete eine Initiative der Friedensplattform Libyscher Frauen, um ein mitbestimmteres Wahlgesetz zu erreichen, ein Gesetz, das jedem Bürger, egal mit welchem Hintergrund, das Recht geben sollte zu wählen und zu kandidieren und vor allem um für politische Parteien einen Wechsel zwischen männlichen und weiblichen Kandidaten auf vertikaler und horizontaler Ebene festzulegen und damit eine Reißverschluss-Liste zu bewirken. Am Ende wurde unsere Initiative übernommen und erfolgreich. Frauen gewannen 17,5 Prozent des Nationalkongresses in den ersten Wahlen seit 52 Jahren. (Applaus) Langsam aber sicher lies jedoch die Euphorie der Wahlen und die der gesamten Revolution nach — denn jeden Tag wachten wir zu neuen Nachrichten von Gewalt auf. Einen Morgen erwachten wir zu der Meldung über Schändungen uralter Moscheen und Sufi-Gräbern. An einem anderen Morgen erhielten wir Nachricht über den Mord am Amerikanischen Botschafter und den Angriff auf die Botschaft. An wieder einem anderen Morgen wurden die Ermordungen von Offizieren der Armee gemeldet. Und wirklich jeden Tag erwachen wir unter der Herrschaft der Milizen und ihren andauernden Verstößen gegen die Menschenrechte Gefangener und ihrer Missachtung von Regeln und Gesetzen. Unsere Gesellschaft, geformt von einer revolutionären Geisteshaltung, polarisierte sich und entfernte sich von den Idealen und Prinzipien — Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit — die sie anfangs inne hatte. Intoleranz, Ausschluss und Rache wurden zu den Ikonen der [Folgezeit] der Revolution. Ich bin heute nicht da, um Sie zu inspirieren mit der Erfolgsgeschichte unserer Reißverschluss-Liste und den Wahlen. Vielmehr bin ich heute hier um zu gestehen, dass wir, als eine Nation, die falsche Auswahl und die falschen Entscheidungen getroffen haben. Wir haben unsere Prioritäten falsch gesetzt. Denn die Wahlen brachten weder Frieden noch Stabilität oder Sicherheit in Lybien. Hat die Reißverschluss-Liste und der Wechsel zwischen weiblichen und männlichen Kandidaten Frieden und nationale Versöhnung gebracht? Nein, das hat sie nicht. Was ist es dann? Wieso wird unsere Gesellschaft weiterhin polarisiert und dominiert von selbstsüchtiger Politik der Dominanz und des Ausschlusses, sowohl von Männern als auch Frauen? Vielleicht waren die Frauen nicht das Einzige, das gefehlt hat, sondern die weiblichen Werte des Mitgefühls, der Gnade und des Einschlusses. Unsere Gesellschaft braucht einen nationalen Dialog und Konsensbildung dringender als sie die Wahlen gebraucht hat, die am Ende nur die Polarisierung und Entzweiung bestärkt haben. Unsere Gesellschaft braucht die qualitative Verkörperung des Weiblichen mehr als sie die numerische, quantitative Verkörperung des Weiblichen braucht. Wir müssen aufhören im Namen des Zorns zu handeln und einen Tag der Rache zu fordern. Wir müssen anfangen im Namen des Mitgefühls und der Gnade zu handeln. Wir müssen einen weiblichen Diskurs entwickeln, der die folgenden Werte nicht nur würdigt, sondern auch umsetzt: Gnade anstatt Rache, Zusammenarbeit anstatt Konkurrenz, Einschluss anstatt Ausschluss. Dies sind die Ideale, die ein vom Krieg zerrissenes Lybien verzweifelt braucht, um Frieden zu erreichen. Denn der Frieden hat eine Alchemie und in dieser Alchemie geht es um die Verflechtung der femininen und maskulinen Sichtweisen. Das ist der wahre Reißverschluss. Und das müssen wir existenziell umsetzen, bevor wir es soziopolitisch tun. Nach einem Vers aus dem Koran "Salam" – Friede — "ist das Wort des barmherzigen Gottes, raheem." Das Wort "raheem" wiederum, das in allen abrahamischen Traditionen bekannt ist, hat dieselbe arabische Wurzel wie das Wort "rahem" — Mutterleib — und symbolisiert das mütterlich Feminine, das die gesamte Menschheit umgibt, von dem das Männliche und das Weibliche, von dem alle Stämme und alle Völker ausgegangen sind. Und genau wie der Mutterleib den Embryo, der in ihm wächst, komplett umgibt so nährt das Grundgerüst des Mitgefühls die gesamte Existenz. Deshalb wurde uns gesagt: "Meine Gnade schließt alle Dinge ein." Deshalb wurde uns gesagt: "Meine Gnade hat Vorzug vor meinem Groll." Möge uns allen die Gunst der Gnade gewährt werden. (Applaus) Vielen Dank. (Applaus)