WEBVTT 00:00:03.123 --> 00:00:11.977 Ein Dichter muss wenigstens einmal in der Hölle gewesen sein, sagt man. 00:00:11.982 --> 00:00:17.990 Das 1. Mal, dass ich ein Gefängnis betrat, überraschten mich nicht 00:00:17.990 --> 00:00:24.103 all die einfallenden Schlösser und Türen oder die Gefägnisgitter, 00:00:24.108 --> 00:00:28.126 und auch nicht all das, was ich mir vorher darunter vorgestellt hatte. 00:00:28.126 --> 00:00:32.939 Wahrscheinlich lag es an diesem relativ offen gelegenen Gefängnis. 00:00:32.939 --> 00:00:35.489 Man konnte den Himmel sehen. 00:00:35.494 --> 00:00:39.102 Möwen flogen vorbei und man denkt, das Meer sei ganz in der Nähe, 00:00:39.107 --> 00:00:42.135 ebenso wie der Strand. 00:00:42.135 --> 00:00:49.255 Aber in Wirklichkeit fliegen die Möwen zu einer nah gelegenen Müllhalde. 00:00:49.255 --> 00:00:55.891 Auf meinem Weg dort hinein sah ich auf einmal Häftlinge, die umherstrolchten. 00:00:55.891 --> 00:01:00.106 Mir war es, als ob ich einen Schritt zurückginge und dann dachte, 00:01:00.106 --> 00:01:05.505 auch ich könnte einer von ihnen sein -- hätte ich eine andere Geschichte, 00:01:05.505 --> 00:01:10.272 einen anderen Kontext, ein anderes Schicksal. 00:01:10.272 --> 00:01:18.159 Denn keiner von uns kann sich seinen Geburtsort aussuchen. 00:01:18.159 --> 00:01:22.493 2009 lud man mich ein, an einem Projekt teilzunehmen, 00:01:22.498 --> 00:01:27.860 das die Universidad Nacional de San Martín in der Einheit 48 durchführt. 00:01:27.865 --> 00:01:31.135 Dort sollte ich eine Schreibwerkstatt leiten. 00:01:31.135 --> 00:01:37.570 Die Strafvollzugsanstalt stellte einen Bereich unten im Gefängnis zur Verfügung. 00:01:37.570 --> 00:01:43.547 Dort wurde ein Universitätszentrum gebaut. 00:01:43.547 --> 00:01:46.260 Bei meiner ersten Zusammenkunft mit den Gefangenen 00:01:46.265 --> 00:01:49.815 fragte ich sie, warum sie eine Schreibwerkstatt haben wollten. 00:01:49.815 --> 00:01:53.386 Sie sagten, sie wollten all das zu Papier bringen, 00:01:53.391 --> 00:01:58.887 was sie nicht sagen durften, was sie nicht machen konnten. 00:01:58.892 --> 00:02:05.264 Daraufhin beschloss ich, die Dichtkunst ins Gefängnis zu bringen. 00:02:05.274 --> 00:02:09.228 Ich schlug den Gefangenen also das Dichten vor. 00:02:09.228 --> 00:02:11.440 Ich fragte sie, ob sie wussten, was Lyrik sei. 00:02:11.440 --> 00:02:17.387 Keiner von ihnen hatte Ahnung, was Dichtkunst eigentlich ist. 00:02:17.387 --> 00:02:21.521 Außerdem erzählten sie mir, dass diese Schreibwerkstatt 00:02:21.526 --> 00:02:24.740 nicht nur für gefangene Akademiker sei, 00:02:24.745 --> 00:02:28.451 sondern auch für alle anderen Häftlinge. 00:02:28.451 --> 00:02:32.113 Daher sagte ich ihnen, dass ich für diese Schreibwerkstatt 00:02:32.128 --> 00:02:35.595 ein Werkzeug brauchte, das wir alle schon besaßen. 00:02:35.595 --> 00:02:38.711 Dieses Werkzeug ist unsere Sprache. 00:02:38.711 --> 00:02:44.958 Wir hatten die Sprache, die Werkstatt, also auch die Dichtkunst. 00:02:44.958 --> 00:02:50.834 Aber Ungleichheit gibt es auch im Gefängnis 00:02:50.834 --> 00:02:55.845 und viele von ihnen besaßen nicht einmal eine Grundschulbildung. 00:02:55.880 --> 00:03:03.315 Viele beherrschten keine Schreibschrift, gerade mal einige Druckbuchstaben. 00:03:03.315 --> 00:03:06.882 Sie schrieben auch nicht flüssig. 00:03:06.887 --> 00:03:14.386 Wir suchten deshalb nach kurzen, aber sehr aussagekräftigen Gedichten. 00:03:14.386 --> 00:03:18.017 Wir lasen einen Autor nach dem anderen. 00:03:18.017 --> 00:03:23.852 Beim Lesen dieser kurzen Gedichte merkten alle, 00:03:23.852 --> 00:03:26.819 dass der dichterische Ansatz eine bestimmte Logik durchbrach 00:03:26.819 --> 00:03:30.004 und ein anderes System erschuf. 00:03:30.009 --> 00:03:33.798 Die Logik der Sprache zu durchbrechen bedeutete auch, 00:03:33.798 --> 00:03:37.775 die des Systems zu durchbrechen, auf das sie gewohnt waren zu reagieren. 00:03:37.775 --> 00:03:43.143 Es entstand also ein neues System -- neue Regeln -- 00:03:43.148 --> 00:03:48.658 das ihnen sehr schnell klar machte, 00:03:48.663 --> 00:03:56.781 dass sie mit Gedichten einfach alles ausdrücken konnten, was sie wollten. 00:03:59.401 --> 00:04:06.530 Es heißt, ein Dichter muss wenigstens einmal in der Hölle gewesen sein. 00:04:06.530 --> 00:04:10.024 Sie hatten Hölle im Überfluss. 00:04:10.029 --> 00:04:14.229 Einmal sagte einer: "Im Gefängnis schläft man nie. 00:04:14.234 --> 00:04:20.345 Man kann die Augenlider nie richtig schließen." 00:04:20.351 --> 00:04:25.197 Daraufhin tat ich dies, 00:04:25.197 --> 00:04:31.209 und nach einer Pause sagte ich: "Leute, das ist Dichtkunst." 00:04:31.214 --> 00:04:36.899 Im "Universum" eines Gefängnisses liegt das auf der Hand: 00:04:36.899 --> 00:04:39.954 "All das, was ihr da sagt, dass ihr nie schlaft, 00:04:39.954 --> 00:04:47.266 das drückt Angst aus. Das steht da nicht. Aber all das ist Dichtkunst." 00:04:47.266 --> 00:04:51.536 So machten wir uns die Hölle zu eigen. 00:04:51.541 --> 00:04:55.064 Wir sprangen kopfüber hinein, in den 7. Kreis der Hölle. 00:04:55.069 --> 00:04:59.052 Dort in diesem geliebten und vertrauten 7. Höllenkreis 00:04:59.052 --> 00:05:03.749 lernten sie, dass Wände unsichtbar sein können, 00:05:03.749 --> 00:05:11.541 Fenster schreien und Schatten zu einem Versteck werden. 00:05:11.551 --> 00:05:15.689 Als das 1. Jahr dieser Schreibwerkstatt abgeschlossen war, 00:05:15.689 --> 00:05:18.012 luden wir zu einer Abschlussfeier ein, 00:05:18.012 --> 00:05:21.352 wie man das so macht, wenn man so viel Herzblut hineingesteckt hat. 00:05:21.357 --> 00:05:23.700 Man möchte feiern, eine Party geben. 00:05:23.700 --> 00:05:28.994 Wir luden Familienangehörige, Freunde und Universitätsdozenten ein. 00:05:28.999 --> 00:05:32.781 Die Gefangenen sollten lediglich ein Gedicht vorlesen, 00:05:32.781 --> 00:05:38.644 ein Abschlusszeugnis in Empfang nehmen, dann etwas Beifall -- das Übliche eben. 00:05:38.649 --> 00:05:50.843 Was davon bleiben soll, ist dieser Moment, sind diese Männer, 00:05:50.843 --> 00:05:53.494 diese, im Vergleich zu mir, riesigen Kerle. 00:05:53.494 --> 00:05:58.970 Es gab auch ganz junge, stolze Männer, 00:05:58.970 --> 00:06:04.553 die zitternd ihre Zettel in den Händen hielten und schwitzten, 00:06:04.558 --> 00:06:11.737 und ihre Gedichte mit gebrochener Stimme vortrugen. 00:06:11.737 --> 00:06:19.733 Dieser Moment gab mir zu denken, dass wahrscheinlich viele von ihnen 00:06:19.733 --> 00:06:28.804 zum ersten Mal für die eigene Leistung Beifall geerntet hatten. 00:06:28.809 --> 00:06:32.262 In einem Gefängnis gibt es viele Dinge, die man nicht tun kann. 00:06:32.262 --> 00:06:36.528 Man kann nicht träumen, man darf nicht weinen. 00:06:36.528 --> 00:06:41.907 Es gibt Wörter, die praktisch tabu sind, wie z. B. das Wort "Zeit", 00:06:41.907 --> 00:06:47.026 "Zukunft" oder "Sehnsucht". 00:06:47.031 --> 00:06:52.332 Aber wir trauten uns zu träumen, groß zu träumen, 00:06:52.332 --> 00:06:56.856 denn wir beschlossen, dass sie ein Buch schreiben würden. 00:06:56.861 --> 00:07:01.296 Sie taten nicht nur das, sie banden das Buch auch. 00:07:01.296 --> 00:07:04.112 Das war Ende 2010. 00:07:04.112 --> 00:07:08.701 Wir setzten auch ein 2. Mal auf sie und schrieben ein weiteres Buch. 00:07:08.706 --> 00:07:10.405 Das wurde auch gebunden. 00:07:10.405 --> 00:07:16.469 Das war grad vor Kurzem, Ende letztes Jahres. 00:07:16.474 --> 00:07:21.645 Woche um Woche kann ich beobachten, 00:07:21.650 --> 00:07:26.709 wie sie sich in andere Menschen verwandeln. 00:07:26.714 --> 00:07:31.151 Das Wort gibt ihnen eine Würde zurück, die sie nicht kannten, 00:07:31.156 --> 00:07:33.144 sich nicht einmal erträumen wagten. 00:07:33.144 --> 00:07:38.695 Sie wussten nicht, dass es diese Würde gab und dass sie zu ihnen gehören konnte. 00:07:38.700 --> 00:07:46.097 In der Werkstatt, unserer geliebten Hölle, sind wir bereit zu geben. 00:07:46.097 --> 00:07:48.472 Wir öffnen unsere Hände und unsere Herzen, 00:07:48.477 --> 00:07:51.471 und geben das, was wir haben, das, was wir können. Wir alle. 00:07:51.476 --> 00:07:52.823 Das ist uns gemeinsam. 00:07:52.823 --> 00:07:57.386 In dem Moment fühlen wir, 00:07:57.386 --> 00:08:02.241 dass wir diese soziale Kluft, die so viele im Gefängnis 00:08:02.241 --> 00:08:11.553 als einziges Schicksal erwartet, zumindest ein wenig überbrücken. 00:08:11.558 --> 00:08:17.601 Ich erinnere mich an den Vers eines großen Dichters 00:08:17.601 --> 00:08:25.920 der Einheit Nr. 48 unserer Werkstatt, Nicolás Dorado: 00:08:28.760 --> 00:08:34.819 "Ich brauche einen endlosen Faden, um diese große Wunde zu nähen. 00:08:34.825 --> 00:08:40.709 Das vermag die Dichtkunst. Sie näht die Wunden des Ausschluss zu. 00:08:40.714 --> 00:08:46.412 Sie öffnet Türen. Sie spiegelt die Realität wider. 00:08:46.417 --> 00:08:48.812 Ersinnt einen Spiegel: das Gedicht. 00:08:48.812 --> 00:08:54.426 Sie erkennen sich im Gedicht, schauen auf sich und schreiben 00:08:54.431 --> 00:08:58.801 über das, was sie sind und sind das, was sie schreiben. 00:08:58.806 --> 00:09:04.558 Um zu schreiben, müssen sie sich den Moment vergegenwärtigen. 00:09:04.563 --> 00:09:08.645 Das Schreiben, ein Moment unendlicher Freiheit. 00:09:08.650 --> 00:09:12.108 Sie müssen in ihren Kopf hinein und das Bisschen Freiheit ausgraben, 00:09:12.108 --> 00:09:16.454 das ihnen niemand wegnehmen kann, wenn sie schreiben. 00:09:16.454 --> 00:09:20.285 Dabei lernen sie auch, dass Freiheit möglich ist -- 00:09:20.290 --> 00:09:24.758 auch innerhalb eines Gefängnisses. 00:09:24.758 --> 00:09:30.841 Das einzige Gitter, das wir dort haben, ist das Wort 'Gitter'. 00:09:30.841 --> 00:09:33.889 Wir lernen ebenfalls, dass wir in unserer Hölle vor Glück glühen, 00:09:33.889 --> 00:09:37.664 wenn das Wort entfacht wird." 00:09:37.664 --> 00:09:41.004 (Beifall) 00:10:04.724 --> 00:10:11.037 Ich habe Ihnen viel über das Gefängnis erzählt, was ich jede Woche dort erlebe, 00:10:11.037 --> 00:10:15.678 wie ich das genieße und mich mit ihnen verwandle. 00:10:15.678 --> 00:10:21.418 Ich würde gerne mit Ihnen teilen, was ich fühle und erlebe, 00:10:21.423 --> 00:10:25.099 und sei es nur für ein paar Sekunden -- 00:10:25.104 --> 00:10:32.204 was ich jede Woche genieße und mich zu der macht, die ich bin. 00:10:32.204 --> 00:10:34.251 (Beifall) 00:10:41.231 --> 00:10:45.424 Martín Bustamante: "Das Herz zerkaut die Tränen der Zeit, 00:10:45.424 --> 00:10:48.296 blind, weil es dieses Licht sieht, 00:10:48.301 --> 00:10:51.691 dem die Geschwindigkeit der Existenz genommen wurde 00:10:51.691 --> 00:10:56.834 und Bilder des Kampfes rudern und nicht vergehen. 00:10:56.834 --> 00:11:00.549 Das Herz zerfällt unter diesen traurigen Blicken 00:11:00.554 --> 00:11:03.207 es reitet auf Stürmen, sprüht Feuer, 00:11:03.222 --> 00:11:07.171 hebt Brüste, die vor Scham klein geworden sind. 00:11:07.171 --> 00:11:10.607 Es weiß, dass es nicht nur darum geht, zu lesen und weiterzumachen, 00:11:10.612 --> 00:11:14.462 sondern auch das Blau wieder zu sehen. 00:11:14.462 --> 00:11:17.685 Das Herz setzt sich, um die Sachen zu überdenken, 00:11:17.685 --> 00:11:20.867 kämpft darum, nicht alltäglich zu sein. 00:11:20.882 --> 00:11:24.330 Versucht lieben zu lernen, ohne Wunden zuzufügen; 00:11:24.330 --> 00:11:28.003 atmet die Sonne, um sich Mut einzuflössen; 00:11:28.003 --> 00:11:31.731 gibt sich her, reist zur Vernunft. 00:11:31.731 --> 00:11:35.094 Das Herz kämpft in Sumpfgebieten, 00:11:35.099 --> 00:11:38.819 umschweift die Grenzen der Unterwelt 00:11:38.819 --> 00:11:42.721 fällt kraftlos dahin, aber gibt nicht leicht auf, 00:11:42.721 --> 00:11:45.570 während ungleiche Schritte der Trunkenheit 00:11:45.570 --> 00:11:49.037 die Stille wecken, sie aufwecken." 00:11:49.052 --> 00:11:51.384 Ich bin Martín Bustamante, 00:11:51.384 --> 00:11:55.004 Häftling in der Einheit 48 von San Martín, 00:11:55.019 --> 00:11:58.002 heute habe ich Freigang. 00:11:58.007 --> 00:11:59.894 Die Dichtkunst und die Literatur 00:11:59.894 --> 00:12:01.295 haben mein Leben verändert. 00:12:01.295 --> 00:12:02.295 Vielen Dank! (Beifall) 00:12:02.295 --> 00:12:03.295 CD: Vielen Dank! 00:12:03.295 --> 00:12:06.981 (Beifall)