Ich heiße Mazen Faraj. Ich bin aus dem Flüchtlingslager Dheisheh in der Nähe von Bethlehem. Ich bin Palästinenser. Ich bin Araber. Ich bin Moslem, aber vor allem eines: Ich bin ein Mensch. Heute Abend werden Niv und ich Sie an unseren persönlichen Geschichten über Verlust, Gewalt, Krieg und Konflikt teilhaben lassen; aber am wichtigsten ist, was mit uns geschah, nach allem, was uns passierte. Ich wurde im Flüchtlingslager Dheisheh geboren und wuchs dort auf. Seit ich meine Augen als Mensch, als Kind zum ersten Mal öffnete, stellte ich mir nur die Frage, der ich mich jeden Tag meines Lebens stellen muss; Alltag, Familie, Schule, Wasser, Strom. Jeder einzelne Aspekt meines Lebens war eine komplizierte Geschichte. Wir waren mehr als 75 Schüler im selben Klassenraum. Als palästinensische Schüler hatten wir im Sommer meistens kein Wasser und im Winter meistens keinen Strom. Dies und alles Weitere hatte eine einzige Ursache: Unsere Nakba -- unser Unglück als Palästinenser. Seit jener Zeit -- Als mein Vater sechs Jahre alt war, flüchtete er aus seinem Heimatdorf, rannte vor dem Krieg, der Gewalt und dem Tod weg. Er gelangte mit Hilfe der UNRWA, den Vereinten Nationen, in das Flüchtlingslager Dheisheh. Man sagte ihm nur, dass es für kurze Zeit wäre, und aus der kurzen Zeit wurden seit der palästinensischen Nakba 70 Jahre. Wir warten noch immer auf Gerechtigkeit, Rechte und Freiheit. Das Wichtigste ist, unser Menschsein zu leben. Wir sind es nicht gewohnt, irgendetwas in unserem Leben zu entscheiden. Wir haben in unserem Leben nie irgendetwas entschieden. Jeden Morgen wachen wir auf und wissen nicht, wie viel Zeit und Entfernung zwischen unserer Schule und unserem Zuhause liegen wird. Und wie viel Entfernung und Zeit zwischen unserem Arbeitsplatz und unserem Zuhause liegen wird. Das ist nicht unsere Wahl oder unsere Entscheidung. Der Grund sind die Kontrollposten, die israelische Armee und die israelische Besatzung. Das Wesentliche ist: Es gibt keinen Staat und keine Freiheit. Menschen können sich nicht frei bewegen. So bin ich als Mensch aufgewachsen. So bin ich aufgewachsen und so lebe ich weiterhin. Meine Geschichte und unser Narrativ waren von Klein auf erdrückend. Ich kann damit nichts anfangen. Als 15-Jähriger schloss ich mich der ersten Intifada an. Dann wurde ich von der israelischen Besatzungsarmee festgenommen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich als Kind in einem israelischen Gefängnis; mit 15 Jahren. Versuchen Sie sich das vorzustellen: Was bedeutet es, in der Dunkelheit zu sein, an einem unbekannten Ort, auf einem fremden Weg, ein fremder Schmerz und ein fremdes Leid. Versuchen Sie sich vorzustellen, was sehr harte israelische Ermittlungen für ein Kind bedeuten. Versuchen Sie sich, vor allem das vorzustellen: ein Kind, das weit entfernt von seiner Familie und seiner Zukunft ist, oder davon, eine bessere Zukunft für sich aufzubauen, weit weg von meiner Schule und von meinem Leben. Ich verbrachte mehr als dreieinhalb Jahre in einem israelischen Gefängnis. Ich verpasste meine Bildung. Ich verpasste meine Schule. Glauben Sie mir, bis heute wache ich manchmal mitten in der Nacht auf. Ich schreie einfach wegen dieser sehr schlechten Erfahrungen in einem israelischen Gefängnis. Ich setze mein Leben fort und bis jetzt lebe ich, aber ich vergesse nicht. 14 Jahre später, im Jahr 2002 erhielten wir einen Telefonanruf, dass die Leiche meines Vaters im Krankenhaus war. Wir konnten damit nichts anfangen und gingen einfach zur israelischen Armee und baten um Zugang zum Krankenhaus, um meinen Vater zum letzten Mal zu sehen. Sie sagten nur: "Das ist nicht erlaubt, Sie müssen bis zum Morgen warten." Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer die ganze Nacht warten könnte. Acht lange Stunden. Aber das bedeutet "Besatzung". Man hat keine Wahl und kann nichts entscheiden und die ganze Zeit versucht man, uns die "Verbotskultur" einzuhämmern. Verboten. Nichts ist gestattet. Es ist verboten, frei zu sein, verboten, ein Mensch zu sein. Aber vor allem ist es nicht gestattet, eine Person mit einer palästinensischen Identität zu sein. Wir warteten die ganze lange Nacht. Mein Vater kehrte aus Jerusalem nach Bethlehem zurück, auf dem Heimweg von seiner Arbeit, und die israelische Armee erschoss ihn. Sie töteten ihn grundlos. Vielleicht gibt es eine Million Gründe dafür, wie die Besatzung, den Konflikt, die Gewalt und den Krieg. Denn so nennen wir es, das ganze Leben, die ganze Zeit mitten im Konflikt. Drei Tage nach dem Vorfall mit meinem Vater mussten wir nach der muslimischen Tradition am Morgen aufwachen und unser normales Leben fortsetzen. Aber glauben Sie mir: Es ist bis heute nichts mehr normal. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Besonders ich. Mein Vater war Vater und Mutter zugleich. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Ich konnte nicht mit meiner Wut umgehen und ich wusste nicht, wie ich weiterleben sollte. Mehr als zwei Jahre lang zog ich mich zurück. Ein großer Konflikt, große Fragen. Was kann ich als Mensch tun? Jeder von uns wird sofort, wenn ihm etwas passiert, an Rache denken. Wir denken über eine Reaktion nach, die Recht verschafft. Aber ich denke nie an Rache, weil sich unser Fall als Paläestinenser um Gerechtigkeit, Rechte und Freiheit dreht. Es geht nicht um Rache und Gewalt. Andere Menschen sterben langsam mit ihren Erinnerungen, ohne etwas zu tun. Vielleicht wählen manche Menschen einen anderen Weg. Als ich das erste Mal in meinem Leben Rami Elhanan, einen Israeli, traf, der seine Tochter Smadar 1997 verlor, entdeckte ich die Menschlichkeit meines Feindes. Ich entdeckte die Menschlichkeit der anderen Seite, die ich zuvor in meinem Leben nie gesehen hatte. Mein ganzes Leben als Palästinenser kannte ich die Israelis sehr gut: als Siedler, Soldaten und Leute, die uns im Gefängnis so schlimm behandeln. Ich traf nie auf menschliche Wesen. Im Jahr 2005 traf ich Israelis zum ersten Mal als Menschen oder vielleicht mein neues Bild von der israelischen Gesellschaft. Zum ersten Mal in meinem Leben respektierte mich ein Israeli als einen Menschen oder als Palästinenser. Zum ersten Mal in meinem Leben erkannte ein Israeli an, dass es Freiheit für diesen Mann und seine Rechte und für die ganze palästinensische Gesellschaft geben wird. Zum ersten Mal traf ich einen Israeli, der gegen die Besatzung ist und nachdem ich mein ganzes Leben suchte: nach einem Partner, nach einer Partnerschaft mit den Israelis. Heute, nach zehn Jahren, kann ich Ihnen mitteilen, dass der neue Weg der Versöhnung mit der anderen Seite nicht Vergeben und Vergessen bedeutet. Ich werde nie vergessen, was mir geschah. Ich habe kein Recht zu vergeben, was mit meinem Vater geschah. Aber dazwischen gibt es einen Weg des Dialoges, des Verstehens, des Kennenlernens, und vor allem des gegenseitigen Respekts. Was in unserem Konflikt, in unserem Land in Wahrheit fehlt, ist: Respekt und Menschlichkeit. Wir können die menschliche Seite in diesem Konflikt finden, die allen egal ist. Keinen Politiker und keinen Menschen auf der Welt interessiert das. In der Elternrunde, unter den trauernden Angehörigen, interessiert es uns. Wir zahlen den höchsten Preis in diesem Konflikt. Wir können uns zusammensetzen, miteinander reden und einander beistehen. Das ist unser Auftrag, unsere heilige Aufgabe, und wird es für immer sein. Vielen Dank. (Applaus) Hallo zusammen. Ich heiße Niv Sarig. Ich bin 40 Jahre alt und Israeli. Ich lebe mit meiner Frau und drei Söhnen in Israel. Ich möchte Ihnen auch über mein Leben erzählen. Meine Lebensgeschichte und wie sie sich zweimal änderte. Das erste Mal war, als mein älterer Bruder Guy, ein Infanterie-Offizier, in der palästinensischen Stadt Tulkarem erschossen wurde, die von unserem Zuhause in Israel nur 15 Kilometer entfernt ist. Ja, Guy zu verlieren, änderte mein Leben, wie zu erwarten, vollständig, änderte das Leben meiner Eltern, das Leben meiner Schwester. Trauer, Traurigkeit. Ich persönlich vermisse, was möglich gewesen wäre, hätte man Guy nicht getötet. Ich habe drei Söhne. Meine Schwester hat auch drei Kinder. Sicherlich hätte Guy jetzt auch zwei, zweieinhalb, vielleicht drei Kinder und wir wären eine viel größere Familie. Aber ich vermisse, was möglich gewesen wäre, hätte man Guy nicht getötet. Nicht zu erwarten war, wie sich mein Leben auf so grundlegende Weise beim zweiten Mal änderte, als ich dem Parents Circle Family Forum beitrat; viele, viele Jahre später, nachdem Guy getötet wurde. Ich glaube nicht, dass Sie das verstehen. Für mich war es sehr wichtig eine Sichtweise anzubieten, warum diese Art des Wandels nicht mehr oder so selten geschieht. Man muss begreifen, dass es in Israel eine große räumliche Trennung zwischen der jüdischen, Hebräisch sprechenden Gesellschaft und der arabischen Gesellschaft gibt, die selbstverständlich wurde. Es gibt sehr wenige Bezüge zwischen Menschen und sehr wenige Verbindungen z. B. zwischen Einrichtungen. Es ist sehr üblich, auf die andere Seite in einer pauschalen Färbung aus Angst und Verzweiflung zu blicken. Zwischen Israelis und Palästinensern ist es in Palästina -- nicht innerhalb Israels -- noch extremer. Es gibt sehr wenige Israelis und Palästinenser, die sich nicht jenseits von Zielen -- entweder militärischen oder politischen -- im Zeichen des Friedens und der Versöhnung begegnen. Kennt man die andere Seite überhaupt nicht, macht man sich ein Bild von der anderen Seite, das einem wahrscheinlich hilft, so zu leben wie man es eben tut. Ich wurde im Winter 1977 in einem israelischen Dorf namens Hibat Zion geboren, das mit nichts Geringerem als "Liebe zu Zion" übersetzt wird. Bis Guy getötet wurde, wuchs ich 19 Jahre lang wie jedes andere, mir bekannte, jüdisch-israelisches Zionistenkind auf. Am Abend des Laubhüttenfestes -- wie übrigens jetzt gerade -- haben wir im Islam und im Judentum das Neue Jahr. Übrigens fällt es dieses Jahr zusammen. Im September 1996, zwei Wochen nach Neujahr, hatten wir das Laubhüttenfest. Erst ein paar Tage zuvor begannen wegen der Tunnelöffnung in Israel und Palästina die uns als solche bekannten Western-Wall-Tunnel-Unruhen, wobei 17 Israelis und mehr als 100 Palästinenser ihren Tod fanden. Guy war Offizier bei den sogenannten "gemeinsamen Patrouillen" von Israelis und Palästinensern. Man muss begreifen, dass nach '93/94, als das neue Abkommen von Oslo in Kraft trat, die Zusammenarbeit begann und die gemeinsamen Patrouillen waren Teil dieser Zusammenarbeit. Guy war Offizier in Tulkarem und nachdem die Unruhen begannen, wurde er von einem Heckenoschützen in den Kopf geschossen und starb vor Ort. Wie bereits gesagt, änderte das mein Leben vollkommen. Viele Jahre später unternahm ich den gleichen Schritt, die meine Eltern weit vor mir getan hatten, und ich schloss mich dem "Parents Circle Family Forum" an. Nachdem ich z. B. Mazen und andere palästinensische Mitglieder traf, oder irgendwelche Mitglieder des Forums fand ich eine neue Sicht auf das Leben. Ein neuer Standpunkt, der außerhalb dieser Angst liegt, in der wir leben. Ich bin in Deutschland. Die jüdische Gemeinde hat eine Perspektive: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. In der Vergangenheit hatten wir 2 000 Jahre Verfolgung; an so vielen Orten auf der Welt. Aus der nahen Vergangenheit und der Gegenwart gibt es meine persönliche Geschichte, obwohl sie nicht so persönlich ist, denn ich kenne keinen Israeli, der nicht jemandem nahe steht, der eine nahestehende Person in diesem Konflikt verlor. Für eine hoffnungsvolle Zukunft gehen wir vom PCFF, dem Parents Circle Family Forum, in Schulen und andere Einrichtungen. Wir treffen Schüler, Studenten oder die breite Masse und erzählen unsere Geschichte. Dieses Wunder geschieht jedes Mal. Irgendetwas öffnet sich in den Herzen und Köpfen der Menschen und lässt sie zuhören und sogar handeln. Ich glaube und fühle, dass es in Israel und Palästina Hoffnung in die Situation bringt. Die israelische Gesellschaft und die räumliche Trennung zieht viel Ignoranz und Angst nach sich. Die Angst entsteht aus unserem Sicherheitsbedürfnis. Ich möchte Mazen wieder bei mir haben. Denn unsere Botschaft ist sehr ungewöhnlich und sehr wichtig. Mazen, bitte! Ich glaube und bin sicher, dass wir das gleiche Ziel teilen, vielleicht aus einem anderen Grund. Er verlor seinen Bruder, ich verlor meinen Vater. Tatsächlich gehören wir beide zu den Menschen, die den höchsten Preis in diesem Konflikt zahlen. Mehr als 600 Familien im Parents Circle rufen jeden auf der Welt auf, besonders die Palästinenser und die Israelis, unsere Erfahrungen zu beachten und davon zu lernen. Stellen Sie sich vor: Was bedeutet es, jemanden in einem Konflikt zu verlieren? Stellen Sie sich die Methode und die Entschlossenheit vor, die wir beide auf dem Weg des Friedens, der Hoffnung und der Versöhnung brauchten. Es wird keine Sicherheit für die Israelis ohne "meine" Freiheit geben. Es wird keine Freiheit für die Palästinenser ohne Sicherheit für die Israelis geben. Es liegt an uns, die Menschlichkeit der anderen Seite aufzuzeigen, in Kontakt zu treten, sich gegenseitig in die Augen zu blicken, und zu begreifen, dass Schmerz universell ist, es um Verlust von Menschenleben geht, und darum, über die Angst hinaus zu blicken. Nach Freiheit für die einen zu suchen und nach Sicherheit für die anderen, aber gemeinsam. Niv Sarig: Vielen Dank. Mazen Faraj: Danke. (Applaus)