Stell dir vor, du sollst etwas Neues erfinden. Es kann alles sein, was du willst. Du kannst aus allen Materialien und jede Form oder Gröβe wählen. Diese Art kreativer Freiheit klingt so befreiend, nicht wahr? Oder doch nicht? Wie die meisten Leute würde dich diese Aufgabe vermutlich lähmen. Wo würdest du ohne weitere Anleitung überhaupt anfangen? Grenzenlose Freiheit ist nämlich nicht immer hilfreich. In Wirklichkeit wird jedes Projekt von vielen Faktoren begrenzt, wie z. B. Kosten, Verfügbarkeit von Materialien und den festen Gesetzen der Physik. Diese Faktoren werden kreative Einschränkungen genannt. Das sind Anforderungen und Begrenzungen, die wir für das Erreichen eines Ziels berücksichtigen müssen. Kreative Einschränkungen betreffen alle Berufe, Architekten, Künstler, Schriftsteller, Ingenieure und Wissenschaftler. Begrenzungen spielen oft eine wichtige Rolle als Motor für Entdeckungen und Erfindungen. Besonders bei wissenschaftlichen Vorgängen sind Einschränkungen ein wichtiger Teil des Versuchsaufbaus, z. B. würde ein Wissenschaftler fragen, der ein neues Virus untersucht: "Wie kann ich die verfügbaren Hilfsmittel und Techniken für ein Experiment nutzen, das mir zeigt, wie das Virus die Körperzellen infiziert? Welche Grenzen meines Wissens hindern mich daran, die Wirkungsweise des neuen Virus zu verstehen?" In der Technik helfen Grenzen dabei, mit wissenschaftlichen Entdeckungen Neues und Nützliches zu erfinden, z. B. benötigten die Landemodule Viking 1 und 2 Düsen, um sicher auf dem Mars landen zu können. Das Problem? Diese Düsen hinterlieβen fremde Chemikalien auf dem Boden und verunreinigten die Bodenproben. Eine neue Einschränkung kam also ins Spiel. Wie kann man eine Sonde auf dem Mars landen, ohne Chemikalien von der Erde einzuschleppen? Die nächste Forschungsmission nutzte ein Airbag-System, mit dem der Rover hüpfen und ausrollen konnte, ohne verschmutzenden Treibstoff zu verbrennen. Jahre später wollte man einen gröβeren Rover senden: Curiosity. Aber er war zu groβ für das Airbag-System. Somit gab es eine weitere Einschränkung. Wie kann man einen groβen Rover landen und dabei den Raketentreibstoff vom Marsboden fernhalten? Hierzu hatten die Ingenieure eine verrückte Idee. Sie bauten einen Himmelskran. Ähnlich wie ein Greifautomat in Spielzeugläden sollte er den Rover von hoch oben auf den Boden absetzen. Mit jeder Erfindung zeigten die Ingenieure eine wichtige Eigenschaft wissenschaftlichen Denkens: Lösungen müssen die Grenzen der aktuellen Technik erkennen, um diese weiterzuentwickeln. Manchmal ist der Fortschritt iterativ, wie z. B.: "Wie kann ich einen besseren Fallschirm für die Landung des Rovers bauen?" Und manchmal ist er innovativ, z. B.: "Wie erreichen wir unser Ziel, wenn der bestmögliche Fallschirm nicht funktioniert?" In beiden Fällen lenken Einschränkungen die Entscheidungen, um das Erreichen jedes Ziels sicherzustellen. Hier ist noch ein zu lösendes Marsproblem. Wir wollen Astronauten senden, die Wasser benötigen. Sie sind auf ein Filtersystem angewiesen, welches das Wasser sehr sauber hält und eine Wiederverwertung von 100 % ermöglicht. Das sind ziemlich schwierige Einschränkungen. Wir haben hierfür vielleicht noch nicht die Technologie. Aber beim Versuch, diese Ziele zu erreichen, könnten wir andere Anwendungen für bestehende Erfindungen entdecken. Ein innovatives Wasserfiltersystem könnte eine Lösung für Bauern in Dürreregionen sein oder es könnte das öffentliche Wasser in verschmutzten Städten reinigen. Viele Fortschritte entstanden, als Scheitern auf einem Gebiet zufällig Einschränkungen eines anderen Gebiets löste. Als der Wissenschaftler Alexander Fleming versehentlich eine Petrischale im Labor verunreinigte, führte das zur Entdeckung des ersten Antibiotikums, dem Penicillin. Das gilt auch für künstliche Farbstoffe, Plastik und Schieβpulver. Alle wurden versehentlich erschaffen, führten aber dazu, Einschränkungen anderer Problemen zu lösen. Das Verständnis für Einschränkungen lenkt den wissenschaftlichen Fortschritt. Was auf die Wissenschafft zutrifft, gilt auch für viele andere Bereiche. Einschränkungen schränken Kreativität nicht ein, sondern sind ihre Basis.