Angenommen, man stellt eine Kamera an eine feste Stelle, schießt vom Himmel ein ganzes Jahr lang, jeden Tag zur selben Zeit ein Foto und legt alle Fotos übereinander. Was bekäme man von der Sonne auf diesem Bild zu sehen? Einen feststehenden Punkt? Eine Kreisbahn? Keines von beiden. Eigentümlicherweise folgt ihre Bahn der Figur Acht, bekannt als Sonnen-Analemma. Warum ist das so? Die Erde bewegt sich kreisend. Erstens dreht sie sich in 24 Stunden einmal um ihre Achse, wobei sie Sonnenaufgänge und -untergänge bewirkt. Gleichzeitig umrundet sie in einem viel langsameren Zyklus ungefähr alle 365 Tage die Sonne. Die Sache hat einen Haken. Bezogen auf die Ebene ihrer Umlaufbahn dreht sich die Erde nicht mit einem senkrecht nach oben zeigenden Nordpol. Stattdessen hat ihre Achse eine ständige Neigung von 23,4 Grad. Das ist als Erdneigung oder Obliquität bekannt. Eine 23 Grad Neigung erscheint vielleicht nicht wichtig zu sein, ist aber der Hauptgrund, dass wir unterschiedliche Jahreszeiten erleben. Weil sich die Achse in dieselbe Richtung neigt, während die Erde ihrer jährlichen Umlaufbahn folgt, gibt es jedes Jahr einen langen Zeitraum, in dem die Nordhalbkugel der Sonne zugewandt ist, während die Südhalbkugel abgewandt ist und umgekehrt. Das erleben wir als Sommer und Winter. Während des Sommers auf einer Erdhälfte, taucht die Sonne höher am Himmel auf und macht die Tage länger und wärmer. Einmal im Jahr erreicht die Sonnendeklination, der Winkel zwischen dem Äquator und dem Punkt, wo die Sonne direkt über uns steht, ihren Höchstwert. Dieser Tag ist als Sommersonnenwende bekannt, der längste Tag des Jahres, und als der Tag, an dem die Sonne am höchsten am Himmel steht. Die Erdneigung erklärt teilweise, warum die Sonne ihre Position am Himmel verändert und die Länge der "Acht" stellt die ganzen 46,8 Grad der Sonnendeklination eines Jahres dar. Aber warum ist es eine "Acht" und nicht nur eine gerade Linie? Das ist die Folge einer anderen Eigenschaft des Erdumlaufs, ihrer Bahnexzentrizität. Die Umlaufbahn der Erde um die Sonne ist eine Ellipse, die ihre Entfernung zur Sonne an verschiedenen Punkten ändert. Die entsprechende Änderung der Gravitationskraft verursacht im Januar die höchste Umlaufgeschwindigkeit, wenn sie den sonnennächsten Punkt, den Perihel, erreicht und die geringste Geschwindigkeit im Juli, wenn sie den sonnenfernsten Punkt, den Aphel, erreicht. Die Exzentrizität der Erdbahn bedeutet, dass der Sonnenhöchststand, die Tageszeit, wenn die Sonne ganz hoch am Himmel steht, nicht immer zur gleichen Zeit eintritt. Eine Sonnenuhr kann gegenüber einer normalen Uhr sechzehn Minuten vor oder vierzehn Minuten nachgehen. Die Uhrzeit und die Sonnenzeit stimmen nur viermal im Jahr überein. Die Breite der "Acht" stellt das Ausmaß der Ablenkung dar. Woher wussten die Menschen früher die richtige Uhrzeit? Den größten Teil der Menschheitsgeschichte reichte es völlig aus, sich am Sonnenstand zu orientieren. Aber im Verlauf der Moderne wurde der Unterschied zwischen Sonnenuhren und mechanischen Uhren bedeutsam. Die Zeitgleichung rechnet die scheinbare Sonnenzeit in die normierte Zeit um, auf die wir uns alle verlassen. Sie wurde durch Ptolemäus bekannt und durch die Arbeit von Johannes Kepler verfeinert. Das Analemma war früher sogar auf die Globen gedruckt, damit die Leute den Unterschied zwischen Uhrzeit und Sonnenzeit für einen bestimmten Tag im Jahr bestimmen konnten. Das Erscheinungsbild des Analemmas hängt vom Standort ab. Es ist in einem Winkel geneigt, der vom Breitengrad abhängt, oder steht auf der Südhalbkugel auf dem Kopf. Wenn man auf einem anderen Planeten ist, findet man vielleicht etwas ganz anderes vor. In Abhängigkeit von der Bahnexzentrizität und Achsenneigung dieses Planeten, erscheint das Analemma vielleicht als Tränentropfen, oval oder sogar als gerade Linie.