DIE EINKESSELUNG Die Demokratie in den Fängen des Neoliberalismus 1 . EINLEITUNG In den 30er Jahren galten Regime als totalitär, wenn es Regime mit nur einer Partei waren, in denen die Partei den Auftrag hatte, alle Aktivitäten innerhalb der Gesellschaft zu kontrollieren. Egal, ob es um Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Kultur ging, der Staat lenkte alles. Als bedauerliche Beispiele hierfür kennen wir den Faschismus, den Nazismus und den Stalinismus als totalitäre Regime mit einer allmächtigen Partei. Heute leben wir in einer Demokratie, jedoch stellen wir fest, dass es statt einer Einheitspartei ein Einheitsdenken gibt und dass die Vertreter dieses Denkens meinen, dass es nur eine Lösung, nämlich die, die der Markt uns vorgibt, in Bezug auf alle gesellschaftlichen Aktivitäten gibt. Das heisst, ganz gleich, um welche Bereiche es geht, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur oder Sport, der Markt soll alles bestimmen. Wir sehen ja, wie der Markt heutzutage in alle gesellschaftlichen Räume eindringt, vergleichbar mit einer Flüssigkeit, die überall hingelangt. Daher können wir heute von „globalitären" Regimen sprechen, denn es gibt dieses Bestreben, unseren verschiedenen Problemen mit einer Art Einheitslösung zu begegnen. Ich habe „La pensée unique" geschrieben, im Jahre 1995, als der Mehrheit unserer Mitbürger noch nicht richtig bewusst war, dass wir schlussendlich in eine Ideologie abgeglitten und nun in ihr versunken waren. Diese Ideologie würden wir heute als neoliberal bezeichnen. Der Neoliberalismus ist zwar ein ökonomisches Konzept oder eine Reihe von ökonomischen Prinzipien, aber eigentlich ist er ein ideologisches Joch, das wir nicht wahrnehmen. Das war es, was ich zunächst aufzuzeigen versucht habe, indem ich beschrieb, worum es letztlich geht: Der Neoliberalismus vertritt eine Reihe von Prinzipien, vor allem das der unsichtbaren Hand des Marktes, die fast alles regelt, ohne dass Staat und Bürger sich einmischen. Der Markt soll sich entfalten. Zu den Prinzipien gehört auch Deregulierung. Alles ist zu reguliert, der Staat ist zu präsent, es geht um weniger Staat. Ausserdem wird das Kapital über die Arbeit gestellt. Das Kapital ist immer zu bevorzugen. Und es soll privatisiert werden, da der Einflussbereich des Staates minimal und der des Privaten maximal sein soll. Der Freihandel soll gefördert werden, denn Handel heisst Entwicklung. Beides wurde im Prinzip gleichgesetzt. Kurz gesagt: Ich habe versucht aufzuzeigen, dass diese Prinzipien nicht neu sind. Sie wurden seit 1944 entwickelt, seit der Konferenz von Bretton Woods, die den IWF und die Weltbank ins Leben rief. Sie bestimmen die Arbeit des IWF seit den 60er und 70er Jahren, also die „Strukturanpassung" in den Ländern des Südens, in manchen Ländern bekannt als „Washington Consensus". Dabei geht es um die Senkung der Staatsausgaben um jeden Preis, die Vermeidung von Haushaltsdefiziten und Inflation, die Reduzierung der Zahl der Beamten sowie der Ausgaben für Gesundheit und Bildung auf ein Minimum. Der Staat soll derartige Ausgaben nicht tätigen. Viele Länder des Südens haben darunter natürlich sehr gelitten. Das habe ich dargelegt. Und wenn man das alles zusammennimmt, dann handelt es sich um eine Ideologie. Damals stand Frankreich kurz vor den Präsidentschaftswahlen, die im Mai darauf stattfanden. Ich schrieb, dass wir es heute mit dieser Ideologie zu tun haben, mit diesem Einheitsdenken, das an eine Einheitspartei erinnert. „Privatisierung von Links" Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebt der Westen bei den meisten linken Parteien eine Neuorientierung nach rechts, angefangen bei der britischen Labour Party über die deutsche SPD, bis hin zum Parti Québécois, die alle eine „Reform", einen „Umbau" oder eine „Modernisierung" des Staates anstreben, was sich unverändert in der Umsetzung einer neoliberalen Politik äussert. In Frankreich privatisiert Lionel Jospins sozialistische Regierung von 1997 bis 2002 zirka zehn grosse staatliche Unternehmen. Das entspricht der Anzahl der Privatisierungen durch rechte Regierungen vor oder nach diesem Zeitraum. Wie aber ist es der neoliberalen Ideologie gelungen, bis in sogenannte „sozialistische" Parteien vorzudringen? Und woher kommt sie überhaupt? 2. DIE URSPRÜNGE Generalstreik in Winnipeg, 1919 Der Neoliberalismus entstand in einem speziellen intellektuellen und institutionellen Umfeld. Von 1914 bis 1945 erlebt der Kapitalismus eine beispiellose Krise. Es war eine materielle Krise. In den 20er Jahren erstarkt der Kapitalismus im Zuge des Wiederaufbaus. Dann führt die Grosse Depression zu Entlassungen, Firmenpleiten und politischem Chaos. Das liberale Credo wird abgelöst von Forderungen nach Wirtschaftsplanung, Dirigismus und einem Misstrauen gegenüber dem Laissez-faire. Überall gab es Rufe nach mehr staatlicher Intervention zur Lenkung der Wirtschaft. Dem folgen konkrete Massnahmen, in den „Diktaturen" gleichermassen wie in demokratischen Staaten. Da gab es den sowjetischen Fünfjahresplan oder den New Deal in den USA unter der National Recovery Administration und ähnlichen Strukturen. In Deutschland war es das Reichswirtschaftsministerium, in Italien das Ministerium der Korporationen, in Frankreich das Ministerium für nationale Wirtschaft, ein mit dem Front Populaire aufgekommenes Novum. Kommunistische Demonstration, Berlin, 1929 Wichtig für das neoliberale Netzwerk in Frankreich war die Gründung des Verlages „Les éditions de la Librairie de Médicis" im Jahr 1937. Dieser Verlag wurde von Marie-Thérése Génin gegründet, was in dieser Männerdomäne ungewöhnlich war. Sie war verbunden mit dem führenden Arbeitgebervertreter Marcel Bourgeois. Er bewegte sie zur Gründung eines Verlages, der Texte von Intellektuellen für Intellektuelle veröffentlichte. Dort erschien „La cité libre" von Walter Lippmann als Vorbote des Lippmann-Kolloquiums, aber auch Texte von Hayek, Rueff oder Ludwig von Mises. Zwischen 1937 und 1940 waren es über 40 Texte, darunter die Protokolle des Lippmann-Kolloquiums im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit. An seine Stelle trat später die UNESCO. Der Rahmen war also ziemlich offiziell. Es gab 26 Teilnehmer, deren wichtige Rolle rückblickend deutlich wird: Friedrich Hayek gewann später den Wirtschaftsnobelpreis, Robert Marjolin ist einer der Architekten des vereinten Europas. Anwesend waren auch die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke, de Gaulles Finanzberater Jacques Rueff sowie Stefan Possony, der Urheber von Reagans „Star-Wars-Programm". Damals waren diese Leute natürlich weniger bekannt. Das Kolloquium dauerte vier Tage, und dabei ging es um den möglichen Beitrag des Liberalismus zur Krise der 30er Jahre, um Möglichkeiten für seine Erneuerung und um eine weltweite Opposition gegen Planwirtschaft und Sozialismus. Bereits auf dem Walter-Lippmann-Kolloquium trifft sich die Vorhut des bevorstehenden Kampfes der Neoliberalen. Unter den erbittertsten Gegnern des Kollektivismus heben sich Friedrich von Hayek und Ludwig von Mises besonders hervor. Hayek und von Mises vertreten eine spezielle Strömung des Neoliberalismus, die Österreichische Schule. Der von ihnen vertretene Liberalismus gibt dem Staat nur minimale Befugnisse. Den Ausdruck „Minimalstaat" griffen ihre Anhänger häufig auf. lhre Konzepte wichen etwas voneinander ab. Die Liberalen vertuschen oft ihre verschiedenen Ansichten. Aber es gab auch Gemeinsamkeiten: Beide sahen die Wirtschaftslehre nur als Teil ihres Schaffens an. Für von Mises war sie Teil der Lehre vom menschlichen Handeln. Und Hayek kam bald von der reinen Ökonomie zur Psychologie, zur Hirnforschung, zur Politik und zur Rechtslehre. Die Wirtschaftslehre war ihre Ursprungsdisziplin, aber sie umfasst nicht alle Humanwissenschaften. Dann hatten beide ein besonderes Verständnis von Ökonomie. Die Österreichische Schule ist sehr unsachlich: Es gibt weder Statistiken noch Zahlenangaben, sondern lediglich Axiome. Man geht von „idealtypischen" Situationen aus und betrachtet, wie ein rationales Individuum zwischen bestimmten Dingen wählt, zwischen Arbeit oder Freizeit, schlafen oder sich bereichern, anhand von Bildern à la Robinson Crusoe auf der einsamen Insel. Die dritte, für das Verständnis dieser Bewegung wichtige Gemeinsamkeit ist das Verständnis von geistiger Arbeit und deren Rolle im Sozialismus. Hayeks und von Mises Denken war elitär und aristokratisch: „Die grosse Mehrheit denkt nicht nach." Diesen Satz findet man in von Mises Buch „Die Gemeinwirtschaft". Nur ein paar Intellektuelle denken für alle anderen. Die Intellektuellen müssen also in Ruhe denken, um ein Gegengewicht zum Sozialismus zu bilden, den andere Intellektuelle erfunden haben. Er wurde dem Volk von diesen Intellektuellen in den Kopf gesetzt. Die Intellektuellen spielen also bei sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen eine grosse Rolle. Aus diesem Grund entstand auch die Mont-Pélerin-Gesellschaft. Der Krieg setzt dem Kampf der Neoliberalen vorläufig ein Ende. Das Internationale Forschungszentrum zur Erneuerung des Liberalismus (CIRL), das nach dem Lippmann-Kolloquium gegründet wurde, löst sich nach nur einjährigem Bestehen auf. Doch direkt nach Kriegsende führt von Hayek sein Werk fort. Er lädt mehrere Befürworter einer Umgestaltung des Liberalismus zu einem für die neoliberale Bewegung zukunftsweisenden Treffen ein. Das Treffen von Mont Pélerin fand ... ... vom 1. bis 10. April 1947 statt, im Hôtel du Parc nahe Vevey in der Schweiz. Das Treffen hatte die ausdrückliche Zielsetzung, liberale Intellektuelle aus Europa und Amerika zu vereinen und eine internationale Organisation zur Liberalismusförderung zu gründen. Hayek nahm bereits zwei Jahre zuvor Kontakt zu den Teilnehmern des Lippmann-Kolloquiums und zu einigen Briten und Amerikanern auf. Diesen Kreis lädt er dann nach Mont Pélerin ein, dem namensgebenden Ort für die Gesellschaft. Beim ersten Treffen waren es 39 Teilnehmer, darunter wieder wichtige Persönlichkeiten: die drei späteren Nobelpreisträger Milton Friedman, George Stigler und Maurice Allais. Es kamen Autoren politischer oder philosophischer Essays, Karl Popper und Bertrand de Jouvenel, und Leute mit politischem Einfluss in ihrem Land, etwa die Deutschen Wilhelm Röpke und Walter Eucken, die für die Soziale Marktwirtschaft von Bedeutung waren. Es wurde dann über relativ allgemeine Themen diskutiert, wie Christentum und Liberalismus, die Wettbewerbsordnung, die mögliche Gründung eines europäischen Wirtschaftsverbandes. Dies dauerte mehrere Tage. Hayek wollte eine flexible Struktur, die nur hinzu gewählte Mitglieder aufnimmt, ohne Büro und mit einer in Illinois hinterlegten Satzung mit zweijährlichen Treffen an wechselnden Orten. Diese abstrakte Struktur sprach jene Intellektuellen an, die den Liberalismus als eine vorrangig an sie gerichtete Doktrin ansahen. 3. IM HERZEN DES NEOLIBERALEN NETZWERKS DlE THINKTANKS Die Mont-Pélerin-Gesellschaft ist kein Thinktank, sondern eine Art Akademie für Liberale. Dennoch gibt es eine Art Arbeitsteilung zwischen dieser Gesellschaft, die nur die renommiertesten Liberalen aufnimmt, und den nationalen Aktivitäten ihrer Mitglieder, wie zum Beispiel die Gründung von Verbänden oder Thinktanks. So gibt es in Frankreich seit den 60ern den Verband für wirtschaftliche Freiheit und sozialen Fortschritt als französische Sparte von Mont Pélerin. Dessen Mitglieder kommen aus der Politik und aus Arbeitgeberkreisen. Dadurch werden auch Gruppen einbezogen, die nicht im intellektuellen Milieu angesiedelt sind. Ein anderes Model sind Thinktanks, die Mont Pélerin oft hervorbrachte. Da wären das Institute of Economic Affairs, das 1955 in England gegründet wurde, oder die 1973 in den USA gegründete Heritage Foundation, die den Republikanern nahesteht. Und diese Thinktanks beschäftigen eine Reihe von Leuten, die Mitteilungen schreiben oder ganze Gesetzesentwürfe verfassen lassen, die sie dann an Politiker und Journalisten weitergeben, um zur Bildung einer liberalen öffentlichen Meinung beizutragen. Heute gibt es Hunderte solcher Thinktanks, die man nur noch schwer überblicken kann. Einige von ihnen, wie die Atlas Foundation, sollen Thinktanks an sich fördern, indem sie „Handbücher" für den Aufbau eines Thinktanks verteilen. Das nimmt verschiedene Formen an. Manche Gruppen bilden sich um einen Autor, wie das Hayek Center. Beim Ludwig von Mises Institute dreht sich alles um dessen Werk. Andere Gruppen beschäftigen sich mit bestimmten Themen wie Umwelt, Aussenpolitik und dergleichen. Das Mass an Qualität und Macht dieser Thinktanks ist unterschiedlich gross. Ein starker Thinktank vereint in sich Intellektuelle, Unternehmer und hat eine Verankerung in den konservativen Parteien. Ein solcher Thinktank wäre das Center for Policy Studies von Keith Joseph, das Margaret Thatcher förderte und sie dabei unterstützte, die Konservative Partei in den 70er Jahren umzugestalten. Diese Organisation arbeitet an der Nahtstelle der drei Milieus. Ein rein intellektueller Thinktank, der sich allgemein mit Liberalismus befasst, hat meist nur wenig Einfluss auf politische Debatten. Nationaler Industriellenverband Von Mises und Hayek waren auch deshalb erfolgreich, weil sie den führenden Arbeitgebervertretern sehr nahestanden. Von Mises war in den USA verbunden mit der Foundation for Economic Education und dadurch mit Arbeitgebern. Hayek liess sich in Chicago von amerikanischen Unternehmern finanzieren, die eine auf Amerika bezogene Version von „Der Weg zur Knechtschaft" wollten. Diese Intellektuellen bekamen mehr Macht, als sie sich mit einflussreichen Leuten zusammenschlossen. Hayeks Werk mag etwas Utopisches beinhalten, aber es ist die Utopie der Mächtigen, nicht die der Benachteiligten. Finanziert durch Konzerne und grosse Privatvermögen, profitieren die neoliberalen Thinktanks sehr oft vom Status gemeinnütziger Organisationen. Die grosszügigen Spender haben somit Anspruch auf Steuerminderungen. Dennoch schreibt das Gesetz vor, dass gemeinnützige Organisationen nicht politisch tätig sein dürfen. 1989 wurde Greenpeace der Status einer gemeinnützigen Organisation von der Kanadischen Regierung aberkannt. Die kanadische Steueraufsicht befand, dass diese NGO nicht immer im öffentlichen Interesse handele. Sie trage dazu bei, „Menschen durch die Forderung nach Abschaffung umweltschädlicher Industrien in Armut zu stürzen." Jedoch wurde bisher bei keinem liberalen Thinktank mit gemeinnützigem Status derartig eingegriffen. Bei ihrer Jahreserklärung vor der Kanadischen Regierung bekunden diese „unparteiischen" Forschungsinstitute feierlich, „weder die öffentliche Meinung beeinflussen noch die Änderung eines Gesetzes oder einer politischen Linie bewirken zu wollen." Es gab immer rechtsgerichtete Thinktanks, aber das Phänomen nahm erst in den frühen 70ern bedeutende Ausmasse an. Das war Teil einer sehr breiten Reaktion ... ... auf den Aktivismus der 60er, der die Eliten in Angst versetzt hatte. Denn er demokratisierte die Gesellschaft, und das missfiel ihnen natürlich. Der deutlichste Ausdruck von liberalen internationalistischen Ansichten war eine Studie der Trilateralen Kommission, die liberale Internationalisten aus Europa, den USA und Japan vereint. Drei starke Regionen. Sie erschien 1974 und hiess „Die Krise der Demokratie". Darin hiess es, dass die Länder zu demokratisch werden. Das nannte man „ein Übermass an Demokratie". Menschen, die eigentlich passiv und apathisch waren, wurden aktiv und stellten Forderungen. Das waren „besondere Interessengruppen", wie Frauen, junge Leute, alte Leute, Bauern, Arbeiter, also das ganze Land. Nur eine Gruppe wurde nicht dazugezählt: die Privatwirtschaft. Sie lenkte ja die Welt und das Land, war also von „nationalem Interesse". Aber der Rest der Bevölkerung wurde einfach zu aktiv, in der Studentenbewegung, in der Frauenbewegung, in Umweltfragen. Diese Zeit ... ... hatte eine sehr zivilisatorische Wirkung auf die Gesellschaft. Sie veränderte viel und das war beängstigend. Es gab heftige Gegenreaktionen. Die Trilaterale Kommission rief zu einer Mässigung in der Demokratie auf: Der Druck sei zu gross, der Staat könne nicht allem nachkommen. Die „Institutionen zur Indoktrinierung der Jugend..." Untereinander konnten sie ja offen sein. Diese Institutionen also sollten härter durchgreifen. Die Presse sei ausser Kontrolle, was Unsinn ist, und vielleicht müsse der Staat eingreifen. Dies spiegelte das allgemeine Befinden der liberalen Internationalisten in der Welt, also in Europa, den USA und Japan wider. Deshalb sprach man auch von der „Zeit der Unruhen". Die wachsende Teilhabe an Demokratie und Aktivismus war für sie ein Ärgernis. Das rief an vielen Fronten starke Reaktionen hervor. Eine davon war die Erstarkung von rechtsgerichteten Thinktanks, die versuchten, den Tenor der Diskussion zumindest innerhalb der breiten Masse nach rechts zu verschieben. Zugleich verstärkten die Unternehmen ihre Lobbyarbeit, um ihren Einfluss auf die Gesetzgebung sicherzustellen. „Wie kann der Markt die Wahlmöglichkeiten und die Freiheit des Einzelnen stärken? Studentisches Seminar des Fraser Institutes zum Thema Politik im öffentlichen Sektor, in Kooperation mit dem Wirtschaftsinstitut Montreal, am Samstag, den 10.2.2001, gefördert von den Spendern des Fraser Institutes in Quebec." Überlässt man das Monopol auf die Ausübung von Druck einer Kraft, die wir Regierung nennen, gibt es immer die Tendenz zu einer unwissenden oder aber missbräuchlichen Nutzung dieser Macht. Und Macht neigt immer dazu, weiter zu wachsen. Deshalb möchte das Fraser Institute untersuchen und untermauern, wo die Grenzen der Regierung liegen sollen und wo die der privaten Unternehmen liegen sollen, also des freiwilligen Austauschs zwischen Individuen. Und genau das ist ... ... die Trennlinie zwischen Zwang und Freiwilligkeit, um die es in meinem heutigen Vortrag gehen wird. Sie werden auch andere Redner hören, die an dem heutigen Seminar teilnehmen. „Dinner-Konferenz der Foundation for Economic Education in New York. In seiner Präsentation „Gesundet durch den Kapitalismus" erklärt der Liberalismus-Experte, wie unser gestiegener Lebensstandard uns den „Luxus" gestattet, zum Beispiel über Umweltfragen nachzudenken." Ich bin der Präsident der Foundation for Economic Education in New York, die 1946 gegründet wurde. Damals war sie die einzige marktorientierte, klassisch-liberale Organisation der Welt. Seit dieser Zeit sind andere hinzugekommen. Aber uns gibt es seit 1946, und unser Ziel ist die Heranführung der Menschen an die Ideen und Ideale einer liberalen, dezentralisierten Gesellschaft, die vom Privateigentum und weniger vom Staat gesteuert wird. Mir ging es gar nicht darum, zu bestreiten, dass der industrielle Kapitalismus zu Umweltverschmutzung geführt hat. Mir ging es darum, dass diese Verschmutzung, ganz gleich, als wie gravierend man sie einschätzen mag, in ein Verhältnis gesetzt werden muss zu den Lebensumständen in der Vergangenheit, vor der Industrialisierung. Gemessen an heutigen Standards war das Lebensumfeld damals extrem schmutzig, ungesund und gefährlich. Und zwar aufgrund von natürlichen Schadstoffen, mit denen es unsere Vorfahren täglich zu tun hatten. Viele von ihnen sind durch sie umgekommen. Das kapitalistische System hat viele dieser Gefahren eliminiert und die Konsequenzen fast aller anderen Gefahren reduziert. Ich sage nicht, dass es keine Umweltverschmutzung gibt, sondern dass wir den heutigen Zustand mit dem damaligen vergleichen sollten, wenn es darum geht, ob man für den Kapitalismus ... ... oder gegen ihn ist. Das Seminar wird nicht von der Regierung sondern aus privater Hand finanziert. Es ist ermutigend, wenn Leute bereit sind, in ihre Überzeugungen zu investieren. Ich finde, es gibt zu viele Leistungen, wie die Arbeitslosenversicherung, Gesundheit, Bildung, die einem Monopol unterliegen, nämlich dem der Regierung als einzigem Anbieter dieser Leistungen. Warum soll es da keinen Wettbewerb geben? Wir könnten bei der Bereitstellung dieser Leistungen Wettbewerb zulassen. Unsere Fürsorge für die Armen könnte sich dann in Beihilfen zu diesen Leistungen äussern. Es geht um die Abkopplung der Produktion, die privat und wettbewerbsorientiert sein soll, von der Finanzierung, die in Teilen staatlich sein könnte. Ich spreche ungern von „Märkten", denn Märkte existieren nicht ohne den Staat. Jeder Markt braucht Regeln. Jeder Markt braucht ein gewisses Mass an Zwang. Ich spreche auch ungern von Freiheit als einem Wert in sich. Viele Menschen wollen keine Freiheit. Ich hätte gern die Freiheit, meine Machthaber selbst auszuwählen. Was ich ... ... in meinen Vorträgen zu erörtern versuche, ist, wie wir ... ... eine Staatsform erlangen können, in der wir die Art unserer Vertreter, die Art der Zwänge selbst wählen können. Wir alle müssen uns Zwängen fügen, auch die überzeugtesten Libertäre. 4. KURZE ANTHOLOGIE DES LIBERALISMUS LIBERALISMUS UND PUBLIC-CHOICE-THEORIE Le Québécois Libre, Leitartikel „Was sollen die Libertäre tun?" Der Libertarismus ging hervor aus der klassischen liberalen Philosophie. Er betont die Freiheit des Individuums. Ökonomisch gesehen geht es um einen freien Markt, politisch gesehen um einen Minimalstaat mit minimalen Zwängen, einer minimaler Regulierung, der dem Individuum Raum gibt, um sich zu entfalten und freiwillige Beziehungen zu anderen zu unterhalten. Gesellschaftlich gesehen ist dies das Gegenteil der Philosophien, die eine soziale, religiöse oder kulturelle Ordnung durchsetzen wollen. Wenn sich freie Individuen innerhalb eines Rahmens bewegen, in dem Eigentum und Individuum geschützt sind, wird jeder Beziehungen auf freiwilliger Basis unterhalten können. Das erzeugt Harmonie und keine Anarchie, keinen „Raubtierkapitalismus", in dem jeder gegen jeden kämpft. Im Gegenteil, man lässt den Menschen Raum für freiwillige, friedliche Beziehungen zu anderen Individuen. Le Québécois Libre, Leitartikel Neoliberal, anarchistisch oder libertär?" Der Libertarismus ging hervor aus dem Liberalismus, einer Philosophie, die sich im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt hat. Er war eine Reaktion auf die autoritären Monarchien von damals. Der Liberalismus besagte: Gegenüber dem Monarchen braucht das Individuum mehr Freiheiten. Daraus entwickelte sich über die Jahrhunderte der heutige Liberalismus, der einen freien Markt propagiert. Aber die Libertäre des 20. Jahrhunderts heben sich etwas von den Liberalen ab, da „liberal" heute anders definiert wird. In den USA ist ein Liberaler heute ... ... ein Sozialdemokrat oder ein Linker. In Europa bedeutet „liberal" gemäss der französischen Tradition „liberal". Das ist etwas verwirrend. Die Amerikaner als klassische Liberale nannten sich seit den 20er oder 30er Jahren „Libertäre", in Abgrenzung zu den „liberals". Auch die libertäre Philosophie ist schlüssiger und radikaler als der klassische Liberalismus, nämlich in ihrer Forderung nach einem Rückzug des Staates, der nach Auffassung mancher Libertäre komplett abgeschafft werden soll. Dann würden sogar Armee, Polizei und Justiz privatisiert. Le Québécois Libre, Leitartikel „Umverteilung von Reichtum ist unmoralisch." In der heutigen Gesellschaft, in der die Staatsausgaben einem Anteil von 45 bis 55 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt entsprechen, kontrolliert der Staat das Gesundheits- und Bildungswesen sowie verschiedene andere Bereiche. Er subventioniert fast jeden. Ein Grossteil der Bevölkerung ... ... lebt nur von der Umverteilung von Reichtum. Sie produzieren nichts, was auf dem freien Markt nachgefragt wird, sondern erhalten nur Geld vom Staat, das dieser von den Steuerzahlern einzieht. Es gibt also sehr viele Leute ... ... die auf Kosten anderer leben. Aus libertärer Sicht kann man die Gesellschaft aufteilen in jene, die produzieren und jene, die auf Kosten anderer leben und letztlich Parasiten sind. Das klingt hart, trifft aber zu. Man kann nicht für Eigenverantwortung sein und so etwas vertreten. Alle, die von anderen abhängig leben, sind wirklich unverantwortlich. Sie bringen nichts Nützliches hervor und profitieren von staatlichen Zwängen, also der Umverteilung des Reichtums von einer Gruppe an eine andere. Wenn man also Freiheit und Verantwortung fördern will, kann man diese Abhängigkeit grosser Bevölkerungsteile nicht hinnehmen. Die Public-Choice-Theorie besagt, dass die Politik der Regierung nicht vom Interesse der Gemeinschaft bestimmt wird, sondern von Einzelinteressen verschiedener Gesellschaftsgruppen. 1986 gewinnt James M. Buchanan, der geistige Vater dieser Theorie, die die Ineffizienz des Staates beklagt und eine Begrenzung der Staatsausgaben predigt, den Wirtschaftsnobelpreis. Die Regierungen ... Entgegen der Auffassung, die hier bei uns verbreitet wird, leben wir in Quebec in einer etatistischen Kultur. Wir sind so durchdrungen davon, dass wir es gar nicht merken. Aber es ist eine etatistische Kultur, die ganz naiv ... ... davon ausgeht, dass der Staat das Gemeingut maximiert. Mit anderen Worten ... Das ist eine Auffassung ... Wie soll ich sagen? Das ist eine komplette Verklärung des Staates. Das hat mit der Realität nichts zu tun. Wieso glauben wir, dass unsere Regierungen, so demokratisch, wie sie zum Glück sind, das Gemeingut maximieren? Das tun sie nicht. Regierungen gehorchen den Spielregeln, die für sie gelten. Und welche sind das? Es ist der Wahlvorgang. Das ist ja das Gute daran. Was heisst das? Das heisst zunächst ... ... dass wir oft das erleben werden, was „Diktatur der Mehrheit" heisst. Da die Politik in erster Linie auf Mehrheiten angewiesen ist, wird eine neu gewählte Regierung zuerst die Mehrheit begünstigen. Wenn diese Mehrheit aber kleine und mittlere Einkommen hat, dann heisst das, dass die Politik den Reichtum zugunsten dieser Mehrheit umverteilen wird. Sie will ihn weder maximieren noch das Wachstum ankurbeln. Effizienz ist einer Regierung kein grosses Anliegen. Ihr erstes Ziel ist die Umverteilung des Reichtums an ihre Wähler, also an die Mehrheit. Deshalb gibt es umfassende Sozialsysteme. Deshalb gibt es ... ... diese Vorliebe der Mehrheit, wohlgemerkt der Mehrheit, für staatliche Monopole auf Gesundheit und Bildung. Es ist weder Mitgefühl noch das Anliegen, den Reichtum zu verteilen, was diesen Standpunkt bedingt. Die Mehrheit lässt sich Dinge von einer Minderheit bezahlen, die ein etwas höheres Einkommen hat. Darum geht es. Es ist also ein grosser Schwindel zu behaupten, dass Mitgefühl der Grund ... ... für ein staatliches Gesundheits- und Bildungswesen sei. Die zweite Dimension ist die, dass die Leute, also die Mehrheit, eher unpolitisch sind. In der Ökonomie nennen wir das „rationale Ignoranz". Es wäre doch dumm von uns ... ... uns viel Wissen über Politik anzueignen, über deren Auswirkungen auf uns, abgesehen von ein paar Sonderfällen. Wieso? Weil wir in der Vielzahl der Wähler sowieso untergehen. Ob wir informiert sind oder nicht, ob wir klug wählen oder nicht, ist am Ende egal. Also werden alle möglichst wenig unternehmen, um Politik zu verstehen und sich über sie zu informieren. Viele kennen ja nicht mal den Namen ihres Abgeordneten. Sie wären nicht in der Lage zu erklären, welchen Sinn eine politische Massnahme für sie hat. Es wäre, wie gesagt, mühsam, sich zu informieren, wenn der Einfluss, den man hätte, eigentlich gleich null ist. Also sind die Leute apathisch, unpolitisch und nehmen nicht an der Politik teil, weil es sich nicht lohnt. Das wiederum ebnet den Weg für strategisch eingesetzte Gruppen, also Interessengruppen. Deshalb sind die so dominant. Organisationen wie der kanadische Gewerkschaftsbund oder der Bund der Industrie sind schon da. Sie betreiben Politik, Propaganda und Lobby-Arbeit. Es kostet sie fast nichts, weil sie bereits organisiert sind. Das bedeutet, dass politische Entscheidungen von strategisch eingesetzten, organisierten Gruppen bestimmt werden. „Alle grossen Regierungen dieser Welt, von damals wie von heute, waren nichts als Diebesbanden, deren Ziel die Plünderung, Eroberung und Versklavung ihrer Mitmenschen war. lhre Gesetze, wie sie sie nennen, sind lediglich Abmachungen, die sie für nötig befanden, um ihre Organisation zu erhalten und um andere Menschen gemeinschaftlich auszurauben, sie zu versklaven und um allen den verabredeten Teil der Beute zu sichern. Aus all diesen Gesetzen ergeben sich nicht mehr Verpflichtungen als aus Abmachungen, die Ganoven, Banditen und Piraten schliessen." Lysander Spooner in: „Natural Law; or the Science of Justice", 1882 Wenn wir die objektiven Fakten betrachten, ist der Staat ... ... eine Zwangsinstitution. Er kann Dinge nur durch Zwang durchsetzen. Zum Beispiel ... ... besitzt unser Staat das Monopol Hydro Québec. Wenn ich mich entscheide, Strom zu produzieren und zu verkaufen, ausserhalb des Monopols, dann bekomme ich dafür nicht nur ein paar auf die Finger, sondern ich muss ins Gefängnis, wenn ich darauf bestehe, etwas zu tun, das der Staat verbietet. Der Staat greift mich also physisch an, wenn ich etwas anbiete, das der Staat, also dessen Vertreter, zum Monopol erklärt hat. Wenn der Staat mir 50 Prozent meines Gehalts stiehlt ... Es tut mir leid, aber niemand hat mich gefragt, also ist es Diebstahl. Da kann man noch so oft sagen, dass wir Leute gewählt haben, die das für uns entscheiden. Die Demokratie ist eine „friedliche" Form von staatlichem Banditentum. Ich habe nicht für die Wegnahme meines Gehaltes gestimmt, andere wollen das. Weil sie auf Staatskosten leben. Der Staat nimmt mir etwas weg und gibt es ihnen. Demokratie ist also keine richtige Freiheit. Ich bin kein Anti-Demokrat, der einen autoritären Staat will. Wer etwas gegen Demokratie sagt, gilt immer als Befürworter eines autoritären Staates. Aber ich bin für einen Staat, der absolut nicht autoritär ist, insoweit als er ... ... sein Handeln nicht mit Demokratie rechtfertigt. Individuelle und demokratische Freiheit sind nicht dasselbe. Wenn man Leute demokratisch dazu ermächtigt, uns Dinge wegzunehmen oder aufzuzwingen, ist das gegen die individuelle Freiheit. Wenn man individuelle Freiheit will, ist man nicht für mehr Demokratie, sprich für eine noch weitergehende Umverteilung von gestohlenen Ressourcen. Wir sind für einen drastischen Rückzug des Staates, damit die Individuen frei sind. Sie sollen nicht entscheiden, welchen Fuchs sie in den Hühnerstall schicken, sondern darüber, was mit ihrem Eigentum passiert. Die Anreize in der Sozialpolitik sind falsch, für die Armen und die Allgemeinheit. Ich meine, bei uns gibt es eine öffentliche Sozialwirtschaft parallel zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Die eine ist produktiv, die andere fusst auf dem Modell der früheren UdSSR. Sie schafft Anreize, die allen schaden. Wir belohnen die Leute dafür, dass sie nicht arbeiten. Wir belohnen sie für instabile Familienverhältnisse. Durch Beihilfen für alleinerziehende Mütter fördern wir Geburten ausserhalb der Familie. Und wir belohnen die Armut, so muss man es sagen. Armut folgt denselben Regeln wie alles andere auch: Subventionen begünstigen die Armut, denn die Leute finden Gefallen an ihr. Das wurde in Ontario und in den USA in den letzten fünf Jahren deutlich. Dort hat man den Zugang zu Beihilfen und staatlichen Leistungen wirklich begrenzt. Und die Zahl der Armen hat sich innerhalb weniger Jahre halbiert! Es gab kein Geld mehr, die Bedingungen wurden geändert, man zwang die Leute zu arbeiten, wie auch immer. Das heisst ... ... es gibt Mittel zur Förderung der Wiedereingliederung der Leute in die produktive Wirtschaft. Anstatt sie in Sozialwohnungen zu stecken, in Gettos, in denen alle arm sind. Gäbe man ihnen Coupons oder Gutscheine, mit denen sie Zugang zu Eigentum haben, anstatt Arbeitslosigkeit zu subventionieren ... Auch die Arbeitslosenversicherung subventioniert die Arbeitslosigkeit. Wer nicht arbeitslos ist, bekommt nichts. Man könnte stattdessen Sparfonds einrichten, durch die sich die Menschen absichern, steuerfrei, im Falle einer Arbeitslosigkeit sogar bezuschusst. Jeder würde also versuchen, eine Arbeitslosigkeit zu vermeiden, denn es ist das eigene Ersparte. Jeder würde also von seiner Sparsamkeit profitieren. Vieles wäre denkbar. Doch unsere Sozialpolitik fördert die Entstehung einer Industrie der Armut, der Abhängigkeit, die dem Beamtenapparat, der sie umgibt, zugute kommt. Sie erzeugt in der Gesellschaft Abhängigkeit, aber auch politischen Zuspruch. Allerdings ohne Langzeiteffekt. Die Sozialpolitik hat nirgends die Armut reduziert. Das ist der Schluss, zu dem wir in dieserAngelegenheit kommen. „Wie die Sozialhilfe Kindern schadet" Wir stellen fest ... ... dass Wachstum ... In der Geschichte aller Länder war das Wachstum der wirtschaftlichen Erträge das Einzige, was den Armen hilft. Das ist eindeutig belegt. Die einzige Variable, durch die Armut reduziert wird, und zwar in verschiedenen Ländern, ist wachsender Wohlstand. Die Sozialpolitik ist nutzlos. Wessen Anliegen es also ist, den Armen und Unterprivilegierten zu helfen, muss das Wachstum fördern. Daraus folgt, dass alle, die gegen den Freihandel sind, im Namen der armen Länder und im Namen der Armen in den Ländern, unrecht haben, sie schätzen das falsch ein. Die Fakten sagen etwas anderes. Die beste Hilfe ist der Freihandel, da er die Einkommen steigen lässt. Statistisch gesehen steigt das Einkommen der Armen mit dem aller anderen. Damit das passiert, muss man die Wirtschaft öffnen. Und ganz abgesehen ... ... von der Unterstützung der Armen durch sinnvolle Massnahmen, sehe ich ... ... keinen Grund für die Umverteilung des Reichtums. Die Regierungen verteilen jedoch sehr viel Reichtum um, zugunsten der Mittelschicht, weil sie die entscheidende Kraft ist. Doch die moralische Grundlage fehlt. Die einzige soziale Gerechtigkeit ist der Schutz der Eigentumsrechte. Aus libertärer Sicht gibt es kein Allgemeingut. Es wurde erfunden, um staatliches Eingreifen zu rechtfertigen. Die Logik ist, dass es immer äussere Faktoren gibt, wie etwa Verschmutzung. Wir können nicht produzieren, ohne dass Rauch entsteht, ohne dass es Rückstände gibt, die in den Fluss geleitet werden. Der Grund dafür ist, dass es etwa für Wasser kein Eigentumsrecht gibt. Flüsse sind öffentlich, das heisst ... ... der Grund, wieso die Industrie im 19. Jahrhundert ... ... die Flüsse verunreinigen durfte, was sie noch bis vor Kurzem tat, ist der, dass der Fluss staatlicher Kontrolle unterlag. Er war also eine staatliche Ressource. Und der Staat erlaubte den Unternehmen, ihn zu verschmutzen. Hätte man den Fluss aber privatisiert und hätte jeder der Eigentümer befragt werden müssen, ob er dem Unternehmen das Einleiten von Rückständen erlaubt, dann wäre das sicher nicht passiert. Oder es wäre passiert, wenn die Firma den wahren Preis dafür bezahlt hätte, also wenn sie für die Erlaubnis des Eigentümers hätte zahlen müssen. Die Ressourcenverteilung wäre ganz anderes gewesen. Man hätte sich stärker bemüht, andere Lösungen zu finden. Die Unternehmen hätten in „saubere" Technologien investiert oder sich auf bestimmte Orte zur Entsorgung geeinigt, etwa bei jemandem, der die Verschmutzung gegen Bezahlung zulässt. Die Prioritäten bei der Produktion wären anders angeordnet. „Allgemeingut" ist also etwas, das nur existiert, weil der Staat ... ... die Produktion verzerrt, indem er die Umwelt verstaatlicht. 5. KRITIK Liberalismus stand einmal für Fortschritt. Aber der klassische Liberalismus, den Adam Smith vertrat, der Begründer der Politischen Ökonomie, hat wenig mit dem gemein, was derzeit als „Liberalismus" in dem Wort „Neoliberalismus" kursiert. Das hat wenig miteinander zu tun. Der war historisch gesehen ein Fortschritt, da er sich gegen den königlichen Absolutismus wendete und dem Individuum Rechte zusprach. Zu diesen Rechten gehörte, im Liberalismus von Locke und Smith, das Recht auf privates Eigentum. Das war ein Fortschritt. Es ist nicht abwegig, dass der Anarchismus aus dem Liberalismus hervorging. Der frühe Liberalismus hatte etwas Radikales. Angesichts der „liberalen" Denker von heute würde sich Adam Smith im Grab umdrehen, da er nicht wiedererkennen würde, was heute als seine Theorie kursiert. Nehmen wir das Privateigentum: Wenn es aus Interaktionen resultiert, deren Akteure transnationale Konzerne sind, dann ist das im Rahmen des klassischen Liberalismus nicht denkbar. Da wäre es ausgeschlossen, dass private Tyrannen wie GM oder Bombardier Rechte haben, seien es Eigentumsrechte oder über dem Menschen stehende Rechte. Doch die Frage der Eigentumsrechte ist schwierig. Eine einfache Antwort gibt es da nicht. Allerdings wären, selbst im Rahmen des Liberalismus, die aktuellen Praktiken der Akteure, also der grossen Konzerne, deren Rechte, im klassischen Liberalismus nicht denkbar. Wir müssen die Eigentumsrechte prüfen. Ich folge dem klassischen Anarchismus: Das Privateigentum an Produktionsmitteln scheint mir unsinnig. Aber das, was Proudhon „Eigentum" nennt, ist sinnvoll und gesund. Doch die heutige Liberalismus- oder Neoliberalismus-Doktrin ist absurd. Nehmen wir einmal an, in unserer Welt könnte sich jemand mit den Mitteln, durch die man sich üblicherweise Eigentum verschafft ... Nehmen wir an, ich würde mir mit legalen Mitteln etwas aneignen, was für das Leben aller Menschen unabdingbar ist. Sie könnten sterben oder sich mir verkaufen. Der Neoliberalismus sieht so etwas als richtig an, aber es ist falsch. Die Antwort ist nicht so einfach, wie die Welt es uns weismachen will. Die Frage bleibt schwierig. Ich sage: Produktionsmittel sollten nicht privat sein, aber Eigentumsrechte an Dingen, die wir nutzen, sind gut. Der Begriff des „Neoliberalismus" ist seltsam. Zunächst ist er nicht liberal. In keiner Weise. Und er ist auch nicht neu. Die neoliberale Politik im weitesten Sinne hat die Dritte Welt geschaffen. Blickt man zurück ins 18. Jahrhundert, da waren die Zentren der Weltwirtschaft vor allem Indien und China. Das ist jetzt anders. Die Kluft zwischen Arm und Reich war bei Weitem nicht so gross wie heute. Europa entwickelte sich, zuerst England, dann die USA, Deutschland, Italien ... Und das geschah durch massive Verstösse gegen neoliberale Prinzipien. Starke Staaten, direkte Eingriffe in die Wirtschaft usw. Das war verheerend für Indien und später China. Genauso ergeht es der heutigen Dritten Welt. Wieso? Weil ihr die Marktprinzipien aufgezwungen werden. Das ist weithin bekannt. Ein ernst zu nehmender Wirtschaftshistoriker wie Paul Bairoch legt dar, dass Protektionismus und staatliche Intervention die reichen Nationen entstehen liessen. Er nennt das erzwungene Liberalisierung, nicht Neoliberalismus. Durch sie entstand die Dritte Welt. Das erkannte man im 18. Jahrhundert. Nehmen wir Adam Smith, den alle verehren, aber keiner liest. Wenn man ihn liest ... Er war ja ein intelligenter Mann. Jeder kennt die „unsichtbare Hand", aber nur wenige kennen den Ursprung des Begriffs. Er verwendet ihn ein Mal in „Der Wohlstand der Nationen". Und es ist eine Kritik an besagtem „Neoliberalismus". Er bezog sich dabei auf England und schrieb: „Nehmen wir an, dass Händler und Produzenten, die das Land und die Politik steuern, im Ausland investieren und aus dem Ausland importieren wollen. Dann ist das einträglich für sie, aber schädlich für England." Und aus mehreren Gründen, sei es ihre Verbundenheit zu England, Sicherheit oder was auch immer, würden alle das verwerfen. Daher würde, wie durch eine unsichtbare Hand, England von den Verwüstungen des Neoliberalismus verschont bleiben. Die Vorahnung stimmte, die Argumente nicht. David Ricardo, ein anderer führender Ökonom, sagte im Prinzip dasselbe. Er erkannte ... Nehmen wir das Standardbeispiel Portugal und England. Er sagte, wenn britische Kapitalisten in Portugal in Wein und Textilien investieren wollten, könnten sie profitieren, aber, und das untergrub seine Theorie vom komparativen Vorteil, zum Schaden des englische Volkes. Sie würden es also nicht tun. Er nennt psychologische und andere Gründe dafür, Heimatliebe und dergleichen. Doch die Erkenntnis stimmt. Das erkannte man im 18. Jahrhundert, und es hat sich bewahrheitet: Die erzwungene Liberalisierung war enorm schädlich. Alle reichen Länder würden sie für sich ablehnen. Der Freihandel ist ein sehr schönes Konzept. Er kam im 18. Jahrhundert auf und hat sich sicher verdient gemacht, denn es ist logisch zu sagen: Ihr müsst besser und billiger produzieren und mit anderen Handel treiben. Anstatt Wein in England herzustellen, kauft ihn in Portugal. Dafür kaufen die Portugiesen eure Wollstoffe. Das war Ricardos Originalbeispiel. Aber die grossen Theoretiker des 18. Jahrhunderts hätten sich nie träumen lassen, dass das Kapital dahin fliesst, wohin es will, und dass eine Firma aus Amerika oder England in China investieren könnte, um das repressive System in China auszunutzen, das Gewerkschaften ablehnt, weshalb die Löhne dort extrem niedrig sind. Die Umweltkosten werden „ausgelagert", und der Planet zahlt dafür, denn Verschmutzung kostet die Firma weniger. Anstelle eines komparativen Kostenvorteils, ich produziere Wein billiger als ihr, ihr produziert Stoff billiger als ich, gibt es einen absoluten Kostenvorteil. Mein Kapital fliesst dahin, wo es die besten Aussichten auf Gewinn vorfindet. Und das verzerrt den Handel und bringt die transnationalen Konzerne dazu, die grösstmögliche Freiheit für sich selbst zu fordern. Aber es steht ausser Frage, dass Arbeit umherwandern kann, abgesehen von den „modernen Nomaden", also hoch qualifizierten Fachkräften, die Dienstleistungsabkommen unterliegen. Sie hätten das Recht, sich niederzulassen, wo sie wollen. Aber für die meisten Menschen trifft das nicht zu. Am 17. Dezember 1992 unterzeichnete der US-Präsident H. W. Bush das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) mit Kanada und Mexiko. 14 Jahre später, am 26. Oktober 2006, verkündete sein Sohn, George W. Bush, den „Secure Fence Act". Dieses Gesetz sieht den Bau eines 4,5 m hohen und 1200 km langen, doppelten Sicherheitszaunes entlang der mexikanischen Grenze vor. Dieser ist zudem mit modernster Überwachungstechnik ausgestattet: Wachtürme, Kameras, Bodensensoren, Drohnen usw. Beim komparativen Vorteil geht es um Spezialisierung. Diese Theorie besagt, dass sich die Nationen entsprechend ihrer komparativen Vorteile spezialisieren müssen. Diese Theorie ist starr. Man ordnet Figuren in einer Box an, ohne zu fragen, warum die Box diese Form hat und ob sie sich verändern wird. Es ist eine Theorie für den Augenblick. Warum funktioniert sie nicht? Weil der Welthandel kein neutraler Handel ist, bei dem nette Eingeborene mit den netten Eroberern Geschäfte machen. Das war und ist niemals der Fall. Erst mal töten die Eroberer alle, und dann kommt der Handel als zweite Phase der Befriedung. Im internationalen Handel als Matrix der Wirtschaft ... Das ist auch so ein Vorurteil. Handel findet nicht in Dörfern, dann in Städten, Regionen, Nationen und schliesslich zwischen den Nationen statt. Es ist umgekehrt. Der internationale Handel folgt dem Militär, er folgt dem Raubzug, und dann kommt ein Prozess, die Befriedung nach innen. DER WOHLSTAND DER NATIONEN Adam Smiths Theorie ist aussergewöhnlich. Sie geht davon aus, dass die Menschen schlecht sind. Sie ist scharfsinnig. Und bezieht diese Annahme ein: Die Menschen sind egoistisch, gierig, gemein, denken nur an sich, mögen die Gemeinschaft nicht, sie sind unsolidarisch, unsozial, eigennützig. Sorgen wir also dafür, dass diese schlechten Eigenschaften sich zum Vorteil der Gemeinschaft auswirken. Lassen wir alles laufen, und aus ihrem Egoismus wird allgemeines Glück erwachsen. Das ist die Theorie der „unsichtbaren Hand". Bei jedem Eingreifen, bei jedem Versuch, diesen Antagonismus der Egoismen aufzuheben, wird alles noch schlimmer. Eine bekannte These der Reaktionäre ist die vom gegenteiligen Effekt. Hirschmann hat das toll beschrieben. Die rechte Reaktion warf den Linken immer vor, Gutes zu wollen, aber Schlechtes zu bewirken. Ihr wollt den Armen helfen, aber die Armut wird zunehmen. Am prägnantesten fand ich ein Bild im Economist nach dem Treffen von Seattle. Es zeigte hungernde Menschen aus der Dritten Welt, schwarze Kinder, und da stand: „Die Opfer des Scheitern von Seattle" Das ist widerwärtig, schlimmer als die Benetton-Werbung. Die Botschaft war: Ihr wolltet die WTO aufhalten und wozu hat das geführt? Zu Armut, Unglück und Hunger. Wo doch dieses System die Armut und den Hunger erzeugt. Aber die „unsichtbare Hand", das bedeutet Laissez-faire. Ihr könnt nichts tun. Der Mensch ist böse. Nur die Bosheit eines anderen kann ihn stoppen. Das gleicht sich aus. Man muss sie nur machen lassen. Seit 1776 studieren die Ökonomen die „unsichtbare Hand". Sie untersuchen das Problem also schon seit einer ganzen Weile. Damit das funktioniert, müssten die Menschen autonom sein. Ohne Beziehungen, ohne die Gemeinschaft. Ihre Rationalität müsste von der aller anderen losgelöst sein. Ein absoluter Individualismus, das ist die erste Bedingung. Die zweite ist umfassende Information. Man müsste Jahrhunderte im Voraus wissen, was passieren wird. Die zweite Bedingung. Nein, das war die dritte. Also, umfassende Information. Und drittens dürfte es keine Unsicherheit geben, wie einen Sturm, einen Zufall, derAbsturz der Ariane beim 25. Flug und nicht beim dritten. Die Welt müsste frei von Risiken sein, eine Folge umfassender Information. Unter diesen Bedingungen ... ... könnte das Ganze funktionieren, aber sicher wäre es nicht. Denn Folgendes muss man wissen: Die grössten liberalen Ökonomen, die Mathematiker unter ihnen, die Renommiertesten, die Nobelpreisträger beweisen es seit etwa 25 Jahren. Die Lehre von der „unsichtbaren Hand" ist nicht haltbar. Sie ist Blödsinn, erwiesenermassen. Viele hatten es ja seit Langem geahnt. Keynes zum Beispiel. Die Idee eines Gleichgewichts in der Wirtschaft war für ihn abwegig. Er sagte das Gegenteil: Wirtschaft ist chaotisch. Auch die Hardliner unter den Ökonomen, die angesehensten Liberalen mit dem höchsten Prestige, der unerbittlichsten Wissenschaft, allen voran der Nobelpreisträger Gérard Debreu, sagen seit 25 Jahren: Das funktioniert nicht. Es führt zu keinem Gleichgewicht, es ist nicht effizient. Der Markt ist nicht im Gleichgewicht, also Angebot und Nachfrage bedeuten nichts, und er ist nicht effizient, also Laissez-faire ist das Schlimmste. Das Schlimmste, was man tun kann. Danke, ihr lieben Liberalen! Gut, dass ihr das auch mal sagt. Wer heute von der „unsichtbaren Hand", Marktgleichgewicht und Ähnlichem redet, ist entweder ein Betrüger, und davon gibt es viele, einer, der seine Augen verschliesst, das kommt auch vor, ein Lump nach Sartre, der wissend schweigt, oder er ist inkompetent, das gibt es auch. Angeblich wollen alle Freihandel. Aber was heisst das eigentlich? Zunächst können Länder wie die USA oder auch die Länder Westeuropas keine Freihandelsabkommen schliessen, aus einem einfachen Grund: Sie akzeptieren den Markt zu Hause nicht. Da kann man keine Freihandelsabkommen schliessen. Nehmen wir die US-Wirtschaft als Zentrum der Weltwirtschaft seit dem Krieg. Sie basiert zu grossen Teilen auf dem dynamischen öffentlichen Sektor. Nehmen wir diesen Ort hier, das MIT. Was ist das MIT? Eines der grössten technischen Institute der Welt, aber es ist auch ein Kanal, durch den staatliche Mittel in die Taschen privater Konzerne fliessen. Hier wurden Technologien wie das Internet, Computer und andere Spitzentechnologien entwickelt, wobei grösstenteils der Staat die Kosten und das Risiko trägt. Das geschah unter dem Deckmantel des Pentagons, was sich für die elektronikbasierte Hightech-Industrie anbietet. Das ging über Jahrzehnte. Computer und das Internet blieben 30 Jahre lang im Staatssektor, bevor sie der Privatwirtschaft übergeben wurden. Das gilt für fast alles um uns herum. Denken wir nur an die zivile Luftfahrt, die viel exportiert wird. Sie ist fast ein Ableger der Air Force. Deshalb interessieren sich Europäer, Amerikaner, Japaner und andere so sehr für die Entwicklung von Militärflugzeugen: wegen der Spin-Off-Effekte auf die zivile Luftfahrt, die Wachstum in der Tourismusbranche generiert. Oder nehmen wir einfach den Handel. Dafür braucht man Container. Wo kommen die her? Von der US-Navy. Bei Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, John Stuart Mill, bei Malthus mehr oder weniger ... Bei allen klassischen Ökonomen gab es eine soziale Komponente. Sie waren eher Sozialphilosophen als reine Ökonomen im heutigen Sinne. Aber die Neoklassiker seit Auguste und Léon Walras, Vater und Sohn, begründeten seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Wirtschaftslehre, die sich als wissenschaftlich bezeichnet. Sie klammerte moralische oder philosophische Überlegungen aus und befreite sich von allem, was die Klassiker bis Marx umtrieb, nämlich folgende Fragestellungen: Wer verdient Geld? Warum verdient er Geld? Darf er so viel Geld verdienen? Ist das gerecht? Ist es gut für die Gemeinschaft? Da gab es eine ethische Dimension. Doch diese verschwand mit dem neoklassischen Denken. Das hat dem neoliberalen Denken den Weg geebnet. Das neoliberale Denken verlieh dem neoklassischen Denken eine Art ... ... wissenschaftlichen Status. Bei uns ist es wie in der Physik: Wir stellen fest, das Geld fliesst von A nach B. Wir zählen, beobachten, klassifizieren, aber wir hüten uns vor einem Urteil. Denn die Physik als Mutter aller Wissenschaft urteilt nicht. Der Vorteil der Ökonomie ist, dass sie neutral zu sein scheint, ein neutraler Diskurs, der weder Gut noch Böse kennt, sondern der einfach wissenschaftlich ist und uns ganz normal vorkommt. Druck auf die Löhne ist nötig, damit es keine Inflation gibt. Es darf keine Inflation geben. Auch wenn dafür die Ungleichheit wächst, auch wenn Menschen verelenden, die Kluft zwischen Nord und Süd wächst, eine Kaste von Reichen das Geschehen bestimmt, wenn Staatsgewalt und Sozialsysteme sich auflösen. Ungeachtet all dessen gibt es nur eine Wahrheit: Sie können doch keine Inflation wollen! In der Geschichte sehen wir aber, dass die seltenen Momente des „gebändigten" Kapitals, etwa die 30er Jahre, eher inflationäre Phasen waren, in denen die Löhne stiegen, so dass die Kredite für Hausbau und dergleichen durch die Inflation schnell abgetragen werden konnten. Heute regieren die Reichen. Man könnte fragen: „Wollt ihr, dass die Reichen die Welt regieren?" Aber man fragt: „Sie sind doch gegen Inflation?" Zur Durchsetzung ihrer Ideologie entwickelten die Neoliberalen im Laufe der Jahre eine bedrohliche Strategie zur Gedankenmanipulation. Diese beruht zu grossen Teilen auf den Aktivitäten eines globalen Netzwerks für Propaganda, Willenslenkung und Indoktrinierung, das sich in vielerlei Gestalt auf allen Tribünen Gehör verschafft. Die zum Grossteil in Thinktanks erdachte neoliberale Propaganda wird daher über viele Kanäle vermittelt. Die Bildung ist zu einem der wichtigsten Kanäle geworden. 6. PROPAGANDA UND INDOKTRINIERUNG 6. PROPAGANDA UND INDOKTRINIERUNG BILDUNG Als die Idee von nationaler Bildung im 18. Jahrhundert aufkam, unter anderem im Zuge der Französischen Revolution, entstand der Gedanke, dass ein öffentlicher demokratischer Raum informierte Menschen voraussetzt, die dazu befähigt wurden, nachzudenken, zu diskutieren, an politischen Debatten teilzunehmen. Es gab zwei wichtige Institutionen, die gewährleisten sollten, dass die Leute zu „Bürgern" wurden: Das war zum einen die Bildung, zu deren Aufgaben es zählte, Bürger auszubilden, sie vorzubereiten. Und es waren die Medien. Dazu kommen wir noch. Der Auftrag der Bildung, auch wenn der nicht immer erfüllt oder korrekt erfüllt wurde, war die Ausbildung der Bürger, ihre Befähigung, an politischen Debatten teilzunehmen und jenseits ihrer eigenen Interessen über Politik nachzudenken. Darum ging es. Um eine Sicht auf Politik, auf Wirtschaft und Gesellschaft, die uneigennützig war, um die Fähigkeit, vom Interesse der Allgemeinheit auszugehen. Das wollte Bildung. Doch im Zuge des „neoliberalen" Wandels in den letzten 30 Jahren erkannten die grossen Institutionen, dass es wichtig ist, sich der Bildung zu ermächtigen. Nun kann man fragen: Dringen sie wirklich ins Bildungswesen ein? Wer genau hinsieht, stellt fest: Es stimmt. Von der Grundschule bis zur Universität. Natürlich hängt das vom Land ab und von der Geschichte des jeweiligen Systems. Doch wir beobachten einen massiven Vorstoss der Konzerne, der privaten Industrie in das Bildungswesen. Warum tun sie das? Die Antwort ist recht einfach. Der Bildungsmarkt ist sehr einträglich. Es ist reizvoll, diesen Raum sozialer und wirtschaftlicher Aktivität einzunehmen. Damit erobert man die Köpfe der Kinder. Es ist brutal: Bildung heisst Köpfe erobern. Das ist etwas ... ... sehr Schwerwiegendes, wenn man Kinder für sich vereinnahmt. Das erfordert einen guten Grund, und ich weiss nicht, ob wir einen benennen können. Die Wirtschaft möchte also die Kinder für sich vereinnahmen. Sie will die Lerninhalte verändern. Dann liegt das Augenmerk nicht mehr auf Staatsbürgerlichkeit und dem Allgemeinwohl, sondern auf den Interessen der privaten Unternehmen, die das Bildungswesen erobern. Man begreift die Welt durch Kultur, Wissen, aus der Aussensicht anders, als durch die Frage, was einem ein Unternehmen gibt. Und um Letzteres geht es immer. Also, Eroberung des Marktes, der Köpfe der Kinder, Vorbereitung der Arbeitskräfte. So verliert Bildung zusehends ihre anderen Zielsetzungen, Vorbereitung auf das bürgerliche Leben, Weltoffenheit, Freude am Verstehen, am Lernen um des Lernens willen. Es geht nur um den Dienst auf dem Markt, um die Vorbereitung der Subjekte auf wirtschaftliche Funktionen. Bildung als Auftakt für ein Leben in der Wirtschaft, für das Arbeitsleben. Das ist beunruhigend. Diese Entwicklung können wir seit etwa 20 Jahren beobachten. Aber im Zuge derAusbreitung dieses Phänomens regt sich auch Widerstand. Zum Glück. Channel One ist ein amerikanisches Unternehmen. Es ist an der Börse notiert. Diese Leute gehen an Schulen, denen es natürlich an Geld mangelt, und sagen: „Ihr bekommt von uns Fernseher und Videorekorder, wenn ihr 20 Minuten pro Tag von uns produzierte pädagogische Sendungen zeigt." Zum Beispiel Nachrichten für Kinder. Das Publikum hat dabei natürlich keine freie Wahl. Dann gibt es also diese Sendungen. Und natürlich kommt darin auch Werbung vor. Diese wenigen Minuten ermöglichen den Werbetreibenden, sich in einem sehr privilegierten Kontext an dieses Publikum zu wenden. In den USA ist das verbreitet, hier in Kanada hat die Firma Athéna versucht, das zu etablieren. Sie arbeiten seit einigen Jahren daran, allerdings haben die Schulbehörden das abgelehnt. Wir haben hier andere öffentliche Haushalte als die USA. Aber das ist ein erneuter Angriff auf das Bildungswesen. Die Formen, die das annimmt, sind wie gesagt überall verschieden. Die Firma Mobil liefert Beiträge über Energie und Umweltschutz, die Firma NutraSweet über Ernährung. Dabei sollen Kinder etwas über Ernährung lernen. GM erklärt die Vorzüge des NAFTA. Zum Thema Wald- und Umweltschutz sehen wir Beiträge von Firmen, die die Wälder abholzen lassen. Dieses Modell erstreckt sich von der Grundschule bis zur Universität. Am Ende gibt es dann, das ist natürlich etwas übertrieben, Institute für Ökologie, die für Umweltverschmutzung sind. Das ist das Beunruhigende. Der Sinnverlust von geistigen, von menschlichen Aktivitäten, zu dem das führt. Je mehr wir glauben, effizient zu sein ... Also finanziell effizient, denn es geht um die Vermehrung von Geld. Je effizienter wir also dabei sind, umso mehr Sinn geht verloren. Wo ist der Sinn, wenn man sagt, dass General Motors, nur als Beispiel, effizient ist, weil der Konzern 23 oder 24 Milliarden Dollar Reingewinn gemacht hat, in den letzten zehn Jahren, es aber zugleich 300 000 Entlassungen gab? Ist das sinnvoll? GM ist angeblich effizient, aber was bedeutet das? Die US-Wirtschaft gilt als sehr effizient. Das ist sie in finanzieller Hinsicht, in Bezug auf Kapitalerträge und dergleichen. Aber in den USA lebten noch nie so viele Menschen unterhalb derArmutsgrenze, also unter der amerikanischen. Noch nie hatten so viele keine Gesundheitsversorgung. 40% derAmerikaner haben praktisch keinen Zugang zum Gesundheitswesen. Nie zuvor war das Bildungsniveau in den USA so niedrig. 50% der Amerikaner wissen nicht, wo sie England auf einer Karte finden. Das ist verrückt, wenn pro Haushalt mindestens 50 Fernsehkanäle empfangen werden. Das belegt im Prinzip diesen Sinnverlust. Wirtschaftlich werden wir immer effizienter, aber ökologisch, gesellschaftlich, politisch und menschlich gesehen verlieren wir immer mehr an Werten und an Lebensqualität. Das ist der Sinnverlust. Wir müssen uns komplett vom ökonomischen Diskurs lösen, um wieder Sinn zu stiften. Das Problem muss neu formuliert werden. Von Grund auf. Dafür müssen wir zurückgehen zu Aristoteles. Der sagte bereits: Verwechselt nicht Wirtschaft, also Oikonomia, die Regeln der Hauswirtschaft und der Gemeinschaft, mit der Chrematistik, der Kunst des Gelderwerbs. Da sind wir wieder bei der Bildung. In welchem Masse wird heute noch Aristoteles gelehrt? Wer kennt ihn? Wer liest ihn? Ich könnte auch Victor Hugo nehmen, Jean-Paul Sartre ... ... Archimedes und so weiter. Heutzutage ... ... gilt unsere Wirtschaft als wissensbasiert, aber noch nie waren wir so schlecht gebildet. Doch wir haben auch noch nie so viel Wert auf so genannte Bildungseinrichtungen gelegt. Der Widerspruch und die Unsinnigkeit liegen in folgendem Umstand: Fast überall, vor allem in den USA, werden Bildungseinrichtungen in Reproduktionsstätten für Systemdiener umgewandelt. Oder anderes gesagt, für denkende Zweibeiner, denen nur daran gelegen sein soll, dass der freie, selbstregulierende Markt erhalten bleibt sowie die Mechanismen der Geldvermehrung. Das nennt man „Beschäftigungsfähigkeit". Wir bilden „Beschäftigungsfähige" aus. Das heisst, wir reformieren unser gesamtes Bildungssystem, um Menschen auszubilden, die auf dem Arbeitsmarkt unterkommen. Das ist schrecklich. Wäre Victor Hugo heute beschäftigungsfähig? Wäre es Sokrates? Wären Paul Verlaine oder Rimbaud beschäftigungsfähig? Nein! Keiner von ihnen. Aber was wäre die Menschheit ohne Sokrates, Aristoteles, ohne Rimbaud, Verlaine und Hugo? Was wären wir ohne sie? Wir wären Tiere. Unter dem Vorwand, dass der Markt sie nicht will, bilden wir heute keine Poeten, keine Literaten, keinen reinen Mathematiker, keine theoretischen Physiker mehr aus. Wir stellen bereit, was die Industrie, die Finanzwelt will, um ihr System aufrechtzuerhalten. Wer ist beschäftigungsfähig? Die Menschen an den Universitäten, an denen ich lehre. Also auf höchstem Niveau, Master-Studenten und Doktoranden. Die nenne ich Technokraten. Also Menschen, die ... Analytische Technokraten auf dem Gebiet des Problem Solving. Man redet ihnen ein, sie seien intelligent. Problem Solving ist nicht intelligent, aber Problemformulierung ist es. Intelligent ist jemand, der das Problem formuliert, der es in Worte fasst und es in einen Kontext setzt, der eine Frage aufwirft. Das ist Intelligenz. Sich mit einem bekannten Problem zu befassen, um eine Lösung dafür zu finden, ist nicht intelligent. Das wird nur behauptet. Analytische Technokraten können analysieren und kalkulieren, und das verwechseln sie mit Nachdenken. Sie treffen gewissenlose Entscheidungen, entlassen 60 000 Leute am Tag, verdoppeln ihr Gehalt um eine Million und sagen, sie leiden. Wegen der schweren Entscheidungen. Das sind Unmenschen. Wer dabei kein schlechtes Gewissen hat und das auch sagt, sagt eigentlich: „Ich bin ein Unmensch." Wieso lassen wir zu, dass Unmenschen über menschliche Wesen entscheiden? Er hat kein schlechtes Gewissen, also hat er kein Gewissen. Ein Unmensch. Das sind die Technokraten ganz oben. Die auf mittlerer Ebene nenne ich die „produzierenden Techniker". Diese Techniker bedienen Maschinen. Sie sind Maschinenbediener. Vom Computer bis zur digitalen Anlage, die Plastik-, Eisen- oder Aluminiumteile ausspuckt. Diese Menschen sorgen dafür, dass diese Produktionsmaschinerie nie ausfällt. Alles, was sie kennen müssen, ist die Funktionsweise der Maschine, die sie beaufsichtigen. Das ist alles. Ansonsten müssen sie lediglich verstehen können, was die Maschine benötigt. Das heisst, es sind nicht einmal sie, die die Maschine beherrschen oder ... ... die der Maschine menschlich, verstandesmässig überlegen sind, sondern die Maschine sagt: „Wenn du intelligent bist, dann entnimm den defekten Chip, wechsle die Karte." Ist er zu langsam, taugt er nichts. Auf der unteren Ebene bilden wir gar nicht mehr aus. 45% derArbeitskräfte der multinationalen Konzerne, vor allem der amerikanischen, sind totale Analphabeten. Die Konzerne wollen daran nichts ändern. Sie wollen nicht, dass diese Menschen die geringste Bildung haben, denn sonst würden sie Fragen stellen. Wenn sie Zeitungen, Finanzanalysen lesen könnten, würden sie Fragen stellen, sich organisieren, nachdenken. Um Gottes willen! Wir haben heute in Nordamerika, vor allem in den USA, Grund- und Gesamtschulabsolventen ... Und diese Zahlen sind wirklich erschütternd: 25% hier in Quebec, und in den USA sind es wahrscheinlich genauso viele, wenn nicht mehr, die trotz Abschluss Analphabeten sind, also kaum lesen und schreiben können. Sie waren lange genug da und bekamen ein Zeugnis. Durch Anwesenheit und Alter. Das kommt dem System zupass. Denn wenn man Bedienpersonal hat, das quasi hirnlos ist und nicht nachdenken kann ... Um denken zu lernen, muss man lesen. Um das Denken zu erlernen, muss ich Hugo lesen, Gedichte ... ... Philosophen, Schriftsteller. Dadurch lernt man Denken. Um zu denken, muss ich Wörter im Kopf haben und mit ihnen umgehen können. Wenn das fehlt, kann ich nicht denken. Aber ich kann ein wunderbarer Vervielfältiger des Systems sein, der nicht nachdenkt und der das System verteidigt. Es gibt Arbeiter, die sagen ... Das habe ich erlebt, in schlimmen Situationen, wie Firmenschliessungen mit Entlassungen. Wenn ich die Arbeiter nach ihrer Meinung frage, höre ich oft: „Das ist das Gesetz des Marktes. Wir müssen wettbewerbsfähiger als die Japaner sein..." Sie werden zu Anwälten eines Systems, das sie zermalmt. Vorhin haben wir besprochen, wie Netzwerke Ideen verbreiten. Bei der Bildung ist es ähnlich. Da gibt es ideologische Begründungen von Theoretikern, nach denen sich das Bildungswesen in einer Weise verändern soll, die ich gleich beschreibe. Dann gibt es die grossen transnationalen Konzerne, die das gleiche anstreben. Sie bewegen die Akteure, Regierungen, Professoren dazu, nach ihren Idealen zu handeln. Und es gibt die Interessengruppen, die Thinktanks, die dasselbe tun. Bei der Bildung kommt das alles zusammen. Der einflussreichste Bildungstheoretiker der letzten 50 Jahre war kein Pädagoge, sondern ein Ökonom. Der wichtigste Bildungstheoretiker war wahrscheinlich Gary Becker. Er lehrt an der Universität von Chicago. Er entwickelte die Theorie vom Humankapital, nach welcher der Mensch und sein Wissen ein Kapital darstellen, in das man investiert, um es wirtschaftlich rentabel zu machen. In der Theorie vom Humankapital lassen sich mathematische Grundsätze aus der Ökonomie auf Bildung als Kapital anwenden, ein Kapital, das man in Zahlen erfassen kann. Das war die einflussreichste Theorie der letzten 50 Jahre, und zwar dort, wo Entscheidungsträger beeinflusst werden. Orte, an denen Regierungen, Bildungsminister und sonstige Schlüsselfiguren beeinflusst werden. Der zweite Theoretiker, der die heute bestehenden Mechanismen begründete, ist Milton Friedmann, der Vater des Monetarismus. Er war für die Einführung von Bildungsgutscheinen. Dadurch sollten Marktmechanismen ins Bildungswesen einfliessen, wie Wettbewerb unter den Schulen. Diese zwei Theorien, die an pädagogischen Instituten sicher nie diskutiert werden, sind die führenden Bildungsansätze der letzten Jahre. Und diese dringen dann zum IWF, zur OECD, zur Weltbank vor. Die beurteilen nationale Bildungssysteme von dieser Warte aus und geben entsprechende Empfehlungen. Thinktanks und grosse Mediengruppen stehen oft in einem privilegierten Verhältnis: die Propaganda der Ersteren gelangt daher ganz unbeschwert in die Medien. Vor allem durch diesen medialen Übertragungsweg wurde die neoliberale Ideologie zu einer Selbstverständlichkeit. 7. PROPAGANDA UND INDOKTRINIERUNG 7. PROPAGANDA UND INDOKTRINIERUNG DIE MEDIEN Hitler gilt als Erfinder der Propaganda. Man liest oft, dass er ihre Wichtigkeit im Zweiten Weltkrieg verstanden habe. Und es ist richtig, dass Hitler ihre Bedeutung für die Gesellschaft verstand. Aber er erfand sie nicht. Er lernte von uns, den westlichen Demokratien, vor allem von den Engländern und von den Amerikanern. Seit dem Aufkommen der modernen Gesellschaften herrschen zwei Ansätze vor: der von der partizipativen Demokratie, in der informierte Menschen diskutieren, handeln und Entscheidungen beeinflussen können, und der Ansatz, dass ein Teil der Menschen abgedrängt werden muss. Sie dürfen sich nicht um Dinge kümmern, die sie betreffen. Diese Sicht auf die Gesellschaft und die Wirtschaft gibt es auch in unserer Kultur. Besonders sichtbar war dies im Ersten Weltkrieg in den USA. Die damalige Regierung wurde gewählt, weil sie einen Kriegseintritt ablehnte. Doch nach der Wahl kam es aus Gründen, die in der Innenpolitik und in der Rolle der Industriellen lagen, zu der Entscheidung, doch in den Krieg einzutreten. Das Problem war nun, dass ein grosser Teil der Bevölkerung dagegen war. Also wurde eine Kommission einberufen, der ein Journalist namens Creel vorsass, die Creel-Kommission. Diese Kommission wird die Techniken der modernen Propaganda entwickeln, Techniken zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die Creel-Kommission erfüllte ihre Mission erfolgreich und stimmte die Öffentlichkeit schnell um. In ihr arbeiteten sehr bekannte Leute, namhafte Intellektuelle, darunter Edward Bernays, der Begründer der Öffentlichkeitsarbeit. Sie verliessen später die Kommission und richteten in der Gesellschaft Kommunikationsinstrumente ein, die es bis heute gibt und die Teil der Propagandamaschinerie sind. Das politische Ziel war der Ausschluss eines Teils der Bevölkerung, die Bildung einer öffentlichen Meinung, eines gesellschaftlichen Konsenses. Sie erschufen Institutionen wie PR-Firmen, aber auch eine neue Konzeption des Unternehmens, der PR im Unternehmen, der sozialen Kommunikation, der Medien, der Rolle der Intellektuellen, der Rolle der Werbung und der Information im Allgemeinen. All das prägte sich Hitler ein, zurecht übrigens. Die Mechanismen, die heute das Einheitsdenken erzeugen, gingen aus besagter Creel-Kommission hervor. Und wenn man noch weiter zurückgeht, auch aus der politischen Auffassung, dass eine funktionierende Gesellschaft einige Menschen ausschliessen muss. Und das beobachten wir. Doch wenn die erwähnten Akteure so gross, mächtig und zahlreich sind, entsteht auch ein Gegendiskurs. Uns werden auch andere Analysen präsentiert. Es gibt alternative Medien, Intellektuelle, gesellschaftliche Gruppen mit einem neuen Denken. Es gibt beide Seiten. Leider überwiegt aber das Einheitsdenken. Die Propaganda erfüllt ihren Zweck. Durch solche Mechanismen und Institutionen sorgt eine Weltanschauung, ein Vokabular, eine Denkweise dafür, dass nur bestimmte Fragen möglich sind, nur bestimmte Antworten und Analysen, während andere ausgeschlossen sind. Die herrschende Ideologie ist eine allumfassende Ideologie, deren offizielle Seite das besagte Einheitsdenken ist. Ihre inoffizielle Seite ist die Sprache, die die Medien ... ... oder alle Verhaltensweisen, die die Medien vorgeben. Sie kommt uns nicht wie eine Ideologie vor, sondern wie etwas ganz Normales, das man ganz selbstverständlich tut. Ein Fernseher ist eine Selbstverständlichkeit. „Wie kann man Ende des 20. Jahrhunderts keinen Fernseher haben?" Es ist selbstverständlich, dass wir Werbung akzeptieren. „Sie werden doch nicht ... ... am Anfang des 21 . Jahrhunderts die Werbung in Frage stellen!" Alles, was ideologisch ist, was eine Wahl darstellt, was das System, ohne uns zu fragen, organisiert hat, wird uns als selbstverständlich präsentiert, worüber man gar nicht reden muss. Das ist interessant. Was das Einheitsdenken betrifft ... Es stellt eine uniforme, partielle und sektiererische Art dar, Wirtschaft zu interpretieren oder zu betreiben. Alain Minc ersetzte „Einheitsdenken" durch „Einheitswirklichkeit". Von da an stellte niemand mehr in Frage, was die liberale oder ultraliberale Wirtschaft trieb. Das war eben die Realität, der man sich fügen musste. Man sagt: „Die Globalisierung ist eine Realität." Natürlich ist sie das, aber nicht zwangsläufig eine gute. Die Ideologie sagt: „Es ist Realität, also müssen wir diesen Weg gehen." Das gilt auch für die Globalisierung. Und für die Privatisierung. Es wird gemacht, also muss es gemacht werden. Man musste es machen. Man präsentiert vollendete Tatsachen, die die Leute akzeptieren müssen, anstatt sie vorher zu fragen. Das ist dem zuzuordnen, was ich über den Trugschluss des Unvermeidbaren geschrieben habe. Die meisten Politiker stellen ihr Handeln und ihre Entscheidungen, die ja richtungsweisend sind, als etwas Unvermeidbares dar. „Wir konnten nicht anders. Es wurde verfügt. Die Amerikaner machen es." Und jeder weiss: Das, was heute in Frankreich passiert, passierte zehn Jahre vorher in den USA. Also müssen wir es hier auch tun. Renault hatte in Belgien ein Werk geschlossen. Sie wollten umstrukturieren ... ... und anderswo Werke eröffnen, in denen die gleiche Arbeit geringer entlohnt wird. Das hatte also mit wirtschaftlichem Kalkül zu tun. Über diese Schliessung äusserte sich der französische Staatschef wie folgt: „Werkschliessungen passieren leider. Bäume wachsen, leben und sterben. Genau wie Pflanzen, Tiere, Menschen und Unternehmen." Das ist ein gutes Beispiel für die „Naturalisierung" des Geschehens, also eine Depolitisierung. Die Leute müssen als natürlich hinnehmen, als vom Willen der Politiker unabhängig, was um sie herum entschieden wird. Dadurch ... ... manipuliert man letztlich die Bürger und bringt sie davon ab, an ihr eigenes Votum zu glauben. Heute ermöglicht die Funktionsweise der Medien die Erzeugung von Wahrheit. Natürlich ergibt sich Wahrheit nur aus der Konfrontation ... ... aus der Überprüfung einer gegebenen Version, für die es verschiedene Zeugen gibt. Wahrheitsfindung ist schwer. Das sehen wir bei Ermittlungsrichtern, bei Wissenschaftlern, die Analysen durchführen, um die Wahrheit herauszufinden. Aber in der heutigen Medienlandschaft genügt es, wenn alle Medien dasselbe über ein bestimmtes Ereignis berichten, die Presse, das Radio, das Fernsehen, damit etwas als Wahrheit gilt, selbst wenn es unwahr ist. Das war der Fall beim Golfkrieg und bei Grossereignissen der jüngeren Geschichte. Hier stellen wir eine falsche Gleichung auf, nämlich: Wiederholung ist gleich Beweis. Vor Kurzem habe ich noch einmal „Schöne neue Welt" von Aldous Huxley gelesen und einen Satz über Hypnopädie wiedergefunden, also diese Art von Hypnose, die kleine Kinder überzeugen soll, dass sie glücklich mit sich selbst sind. Und einer der Direktoren des Konditionierungszentrums lässt verlauten, dass 64 000 Wiederholungen gleich Wahrheit sind. Wir leben heute in Huxleys Welt. Unterstützt durch die Propaganda und den Bekehrungseifer, die unaufhörlich aus den diversen Sprachrohren eines verflochtenen Netzwerks zur Bewusstseinskontrolle dringen, setzen sich die neoliberalen Reformen allmählich im narkotisierten Bewusstsein der westlichen Demokratien fest. Im Namen eines notwendigen „Realismus" verabschieden rechte wie linke Parteien dieser Länder Massnahmen, die den Sozialstaat jeden Tag ein Stück mehr zugunsten des Marktes untergraben. Andernorts, wo die Propaganda nicht so erfolgreich ist, vor allem in den Entwicklungsländern, werden andere Massnahmen angewendet. Drastische Massnahmen. Was verbirgt sich hinter dem ideologischen Rauchvorhang, hinter den schönen Konzepten von spontaner Ordnung, von Interessenharmonie auf einem freiem Markt? Was verbirgt sich hinter dem Allheilmittel der „unsichtbaren Hand"? Was sind die wahren Motive der Bankiers und der Industriellen, die den Aufbau des neoliberalen Netzwerks finanziert haben? 8. NEOLIBERALISMUS ODER NEOKOLONIALISMUS? DIE DRUCKAUSÜBUNG DURCH DlE FINANZMÄRKTE Es ist schon frappierend zu sehen, dass jedes Element des Neoliberalismus entworfen wurde, um die Demokratie zu schwächen. Aber man bespricht nur die wirtschaftlichen Effekte. Denken Sie nur einmal an die finanzielle Globalisierung. Für Keynes war die grösste Errungenschaft des Bretton-Woods-Systems die finanzielle Regulierung. Das hat seinen Grund: Es verschafft den Regierungen Raum, um Programme durchzuführen, die von der Bevölkerung gewollt sind. Wenn der Kapitalfluss keinen Regeln unterliegt, können Währungen einfach so angegriffen werden. Dann entsteht das, was internationale Ökonomen ein virtuelles Parlament von Investoren und Kapitalgebern nennen, die, ich zitiere aus der Fachliteratur, „jederzeit über die Politik der Regierung abstimmen können". Halten sie die Politik für irrational, stimmen sie durch Kapitalabzug oder Angriffe auf die Währungen dagegen. „Irrational" wäre die Politik für sie, wenn sie die Menschen begünstigt und nicht den Profit erhöht oder den Marktzugang verbessert. Die Regierungen haben es mit zwei Wählerschaften zu tun: der Bevölkerung und dem virtuellen Parlament. Meist gewinnt Letzteres, vor allem in armen Ländern. In den reichen Staaten ist es differenzierter. Dort wurde das neoliberale „Paket" nicht in vollem Umfang angenommen, wie etwa in Lateinamerika. Da sind die Auswirkungen vorhersehbar. Das gleiche gilt für andere Elemente des Neoliberalismus. Privatisierung ist zu einem Mantra geworden. Privatisierung untergräbt die Demokratie. Öffentliche Güter geraten in die Hände von nicht haftenden, privaten Tyrannen, die der Staat erschafft und fördert: die Konzerne. Früher ... ... bis in die 70er Jahre, wurden fast alle Aktivitäten der Banken überwacht. Alle Operationen liefen über die französische Zentralbank, die alles nachverfolgte. Heute agieren die Banken im Freiverkehr. Etwas mehr als die Hälfte ihres Umsatzes erwirtschaften sie durch Geschäfte, die keiner Kontrolle unterliegen. So, als gäbe es einen „normalen" Markt und einen Schwarzmarkt. Also hier ein Laden mit ausgewiesenen Preisen und einer Kasse und gleich daneben der Schwarzmarkt. Laut der Banque de France, die die Bilanzen der Banken überprüft, werden 50% der Transaktionen nicht bilanziert. Sie unterliegen keiner Aufsicht durch ein höheres Gremium, wie einem Schatzamt oder einer Zentralbank. Diese Geschäfte ausserhalb der Bilanz bewirken, dass Staaten bedeutungslos werden. Ungefähr ... ... 500 Milliarden US-Dollar wandern täglich in Offshore-Fonds und dergleichen. Wenn der Staat einer Bank dumm kommt, ist der Bank das egal. Sie transferiert ihr Geld mit einem ihrer ausländischen Partner, einer anderen multinationalen Bank, in einen Offshore-Fonds. Kein Problem, das Geld ist frei. Es gibt keine staatliche Aufsicht. Ausserbilanzgeschäfte ... ... sind ein grosses Problem, denn die Kontrolle der Wirtschaft fängt beim Geld an. Ausserbilanzgeschäfte werden im Allgemeinen mit relativ neuen Finanzinstrumenten, den Derivaten, getätigt: Futures, Forwards, Optionen, Swaps usw. Es sind im Grunde Versicherungsverträge, das heisst, man versichert sich gegen zukünftige Schwankungen, also Zins- oder Kursschwankungen. Du schliesst einen Vertrag mit jemandem ab, an den du in sechs Monaten zahlen musst. Der Vertrag wird in Dollar geschlossen. Steigt der Dollar, hast du ein Problem, denn dann musst du Dollar mit 10% Aufschlag kaufen. Also schliesst du eine Versicherung über den Wert des Dollar ab. Dabei übernimmt jemand das Risiko, was dich etwa 3% oder 4% mehr kostet. Egal, wie der Kurs ist ... Der Versicherer gewinnt, wenn er fällt. Du bist entspannt. Du bist versichert. Das sind Derivate. Das Interessante ist, dass dadurch eine Risikowirtschaft entsteht. Währungen, Kapitalflüsse werden ja nicht mehr kontrolliert. Das Risiko wird also unterhalten, um oberhalb dieses Systems ein System einzurichten, das diese Risiken abdeckt. Aber der Unterschied zu Gefahren wie Autounfällen ist, dass Autounfälle vorhersagbar sind. Das ist das Gesetz der grossen Zahlen. Die Risiken auf dem Finanzmarkt sind dagegen seltene Epiphänomene. Sie können nicht statistisch erfasst werden. Es sind absolute, unvorhersehbare Risiken. Diese Versicherungsverträge oberhalb der normalen Wirtschaft bilden eine zweite, noch risikoreichere Schicht. Manche Versicherungen versichern also das Risiko von Versicherungsverträgen. Dadurch entsteht eine Risikopyramide, auf deren Basis die Leute spekulieren. Man erzeugt ein rein spekulatives System durch Erhaltung des Risikos. Der heutige Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass das finanzielle Risiko systematisch aufrechterhalten und systematisch vermarktet wird. So ist das. In den 80er Jahren verabschieden mehrere Länder unter dem Einfluss von Thatcher und Reagan Reformen zur Deregulierung der Finanzmärkte. Doch durch die Autorisierung eines freien Kapitalflusses potenzieren die Regierungen die Macht grosser institutioneller Spekulanten: Hedge Fonds, Handelsbanken, Pensionsfonds, Versicherungsgesellschaften usw. Aus ihrer Position der Macht heraus fungieren diese als neue Übermittler der neoliberalen Ideologie. Dabei zwingen sie sogar die aufmüpfigsten Staaten, die Liberalisierung ihrer Wirtschaft zu beschleunigen. Von den hierfür eingesetzten Methoden erweisen sich Spekulationsattacken als besonders wirksam ... und verheerend. Zwar bestehen des Kaisers neue Kleider aus komplexen Mechanismen, die selbst die neugierigsten Geister verschrecken. Doch auch wenn der Kolonialismus nun ein anderes Gesicht hat, bleibt sein Ziel die Anhäufung von Kapital. Zunächst einmal verfügt die Spekulation ... ... über mehrere Instrumente. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, möchte ich einmal darlegen, was während derAsienkrise im Jahr 1997 passierte. Sie führte in mehreren Ländern zum Zusammenbruch der Währungen. Und zwar in Ländern, die als „Tigerstaaten" eingestuft wurden, die also eine leistungsfähige Wirtschaft hatten. Die Krise hatte mehrere Ursachen. Doch meiner Meinung nach war einer der wesentlichen Faktoren die vorherige Deregulierung der Devisenmärkte. In einigen Fällen war diese Deregulierung erzwungen oder wurde sogar vom Internationalen Währungsfonds gefordert. Die Spekulanten ... ... ermächtigten sich der Reserven der Zentralbanken, und zwar durch folgenden Mechanismus: Sie spekulierten gegen ... ... die nationalen Währungen, indem sie Leerverkäufe tätigten. Bei Leerverkäufen wird darauf spekuliert, dass der Preis eines Wertpapiers sinkt und nicht steigt, wie es gewöhnlich der Fall ist. Ist ein Wertpapier jedoch Gegenstand eines massiven Leerverkaufs, führt das zu einem Absinken der Nachfrage und somit des Preises. Man kann also von einer Spekulationsattacke sprechen, da die Spekulanten selbst den Wertverlust verursachen, indem sie auf einen Preisrückgang spekulieren. Nehmen wir an, ich möchte koreanische Won leerverkaufen. Dafür verkaufe ich riesige Summen koreanischer Won, die irgendwann fällig werden. Die Verträge laufen über drei oder sechs Monate. Am Fälligkeitstag muss ich also eine riesige Summe koreanischer Won oder thailändischer Baht liefern. Aber ich besitze sie nicht. Ich kann verkaufen, so viel ich will. Ich kann Won im Wert von Milliarden von Dollar verkaufen. Und wer kauft diese Won? Die koreanische Zentralbank. Diese ist durch Abkommen mit dem IWF dazu verpflichtet, ihre Währung zu stabilisieren. Praktisch ist Folgendes passiert: Als der Wert der koreanischen Währung fiel, liefen einige Monate später die Verträge über die Leerverkäufe aus, und in diesem Moment ... ... erfolgte eine Beschlagnahme der Reserven dieser Zentralbank. Die Währung ist ja nichts mehr wert. Die Spekulanten mussten die Won lediglich auf dem Spotmarkt aufkaufen, um ihren vertraglichen Verpflichtungen nachkommen zu können. Die Zentralbank kauft nun ihre Währung zurück, was nicht rentabel ist. Dafür werden ihre Reserven beschlagnahmt und wandern in die Taschen von grossen westlichen Banken. Das ist der Mechanismus. Nun wurden die Reserven geplündert. Korea muss nun zum Internationalen Währungsfonds gehen und sagen: „Unsere Reserven wurden geplündert. Wir müssen..." Das Geld ist ja noch nicht unterwegs zu den Gläubigern. „Wir müssen es an die Gläubiger zurückzahlen." Was nun? Wenn der Internationale Währungsfonds einen Kredit von 56 Millionen Dollar gewährt, dann sind dabei mehrere Länder involviert. Es waren 24 Länder. Da ging es ja um astronomische Summen. Also Staatsgelder aus Amerika, Kanada ... Die grossen westlichen Staaten. Wenn aber der amerikanische, der kanadische oder ein anderer westlicher Staat einen Kredit von 56 Milliarden vergibt, steigt dessen Schuldenniveau. Das heisst, sie müssen ... ... mit ihren Schulden an den Börsen verhandeln. Es ist ein Markt der Schulden. Und wer kontrolliert diesen Markt ... ... der westlichen Staatsschulden? Diese Bank hier, also die Spekulanten. Hier schliesst sich der Kreis. Man greift Korea an, kommt dem Land zu Hilfe, beschlagnahmt seine Staatsreserven, leiht im Geld ... ... aus den öffentlichen Kassen der westlichen Staaten. Und um den Schuldenstand der westlichen Länder anzuheben, ist eine Absicherung durch diese Banken aus dem privaten Sektor nötig, die ja die Zeichner für diese Staatsschulden sind. Am Ende verschulden sich also alle, ausser die Spekulanten, die ja die Gläubiger von Korea sind, aber auch die der westlichen Regierungen, die Korea in Form von Hilfsprogrammen des IWF unterstützt haben. Was passiert also? Die koreanische Wirtschaft ist dem Bankrott geweiht. Die Vermögenswerte der Banken und die Hightech-lndustrie werden billig verkauft. Und gegenwärtig beobachten wir, dass der gesamte industrielle Reichtum dieses Landes an amerikanische Investoren übergeht. Letztlich werden diese Vermögenswerte praktisch übernommen, und das zu absolut lächerlichen Beträgen. Nehmen wir das Beispiel ... ... einer der führenden koreanischen Banken, die auf Empfehlung des IWF umstrukturiert wurde. Infolge dieses Vorgangs, denn dafür gab es Bedingungen. Diese Bank, die Korea First Bank, wurde für 450 Millionen Dollar verkauft, und zwar an kalifornische und texanische Investoren. Aber eine der Bedingungen für den Verkauf war, dass die koreanische Regierung für die uneinbringlichen Forderungen dieser Bank in Form von Subventionen aufkommt, die 35 Mal höher als der Kaufpreis waren. Das heisst, etwa 15 Milliarden Dollar. Diese Investoren kommen also nach Korea und erobern praktisch über Nacht den gesamten koreanischen Finanzmarkt, die Handelsbanken. Und sie verwalten die Schulden grosser koreanischer Konzerne wie Hyundai oder Daewoo. Sie sind also in der Lage, eine Spaltung dieser Unternehmen anzuordnen. Ein Teil von Daewoo wurde an General Motors verkauft. Andere koreanische Unternehmen werden verkauft. Durch einen Mechanismus, der mit der Manipulation der Finanzmärkte beginnt, ermächtigt man sich der Wirtschaft eines ganzen Landes. „Koreanische Unternehmen fürchten wegen Bankenkrise um ihre Kredite Eine Million Menschen arbeitslos Die 'Bettler beim IWF' Die schwerste soziale Krise in Südkorea seit Kriegsbeginn: seit März über eine Million Arbeitslose" Die von den Finanzmärkten durchgeführte Kampagne zur Liberalisierung der Wirtschaft wäre nicht so erfolgreich gewesen ohne die wertvolle Unterstützung der Institutionen von Bretton Woods, die ebenfalls wichtige Transporteure der neoliberalen Ideologie sind: der Internatonale Währungsfonds (IWF), die Weltbank (WB) und die Welthandelsorganisation (WTO, ehemals GATT). Der IWF und die Weltbank wurden 1944 zur Gewährleistung der Stabilität der Wechselkurse und zur Unterstützung des Wiederaufbaus in den durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Ländern gegründet. Mit der Zeit jedoch veränderten die USA und Europa in beachtlichem Masse den Auftrag der Schwesterorganisationen mit Sitz in Washington. Kurz nach der einseitigen Entscheidung der USA im Jahr 1971 , dem internationalen Währungssystem ein Ende zu setzen, wurde dem IWF und der Weltbank eine völlig neue Mission zuteil: die Durchsetzung der Liberalisierung der Wirtschaft in den Entwicklungsländern mittels einer „Konditionalität", nach der die Kreditvergabe an die Umsetzung einer Reihe von neoliberalen Massnahmen gebunden ist. Manche bezeichneten diese Wirtschaftsreformen als „Schocktherapie", während sie andere ironisch den „Washington Consensus" nannten. 9. NEOLlBERALISMUS ODER NEOKOLONIALISMUS? 9. NEOLIBERALISMUS ODER NEOKOLONIALISMUS? DIE DRUCKAUSÜBUNG DURCH DIE INSTITUTIONEN VON BRETTON WOODS ODER DER WASHINGTON CONSENSUS Washington, wo die Weltbank und der IWF ihren Sitz haben, begann, dem Rest der Welt, vor allem den ärmsten Ländern, die quasi bankrott waren, vorzuschreiben, wie Wirtschaft funktioniert. Das nannte man „Strukturanpassungsmassnahmen" oder „Strukturanpassungsprogramme", auferlegt vom IWF im Zusammenhang mit den Krediten der Weltbank für die betreffenden Länder. ÄQUATORIALGUINEA, 2006 Eine grosse Zahl von Ländern wurde ins Chaos gestürzt, aufgrund eben dieser Massnahmen des IWF und der Weltbank. Sie sind zahlreich. Es ginge zu weit, fundamentale Anpassungsmassnahmen, zyklische Massnahmen und Ähnliches zu erörtern. lm Prinzip ... ... lässt sich das auf drei oder vier Massnahmen zusammenfassen. ERSTE MASSNAHME: SENKUNG DER STAATSAUSGABEN Die erste Massnahme für Länder, denen Zahlungsunfähigkeit drohte, also die absolute Misere, war ... ... die Beseitigung oder Reduzierung des Staatsdefizits, also die Senkung der Staatsausgaben. Der Staat soll weniger ausgeben. ZWEITE MASSNAHME: PRIVATISIERUNGEN Wer kauft bei Privatisierungen? Lokale Akteure gibt es ja keine. Gäbe es genügend lokale Mittel für den Kauf ganzer Firmen aus der Öl-, Phosphat- oder Eisenindustrie, wäre das Land ja nicht so arm. Die Öffnung der Wirtschaft dieser verarmten Drittweltstaaten geht so weit, dass sie ihre letzten nationalen Wirtschaftsinteressen an ausländische Investoren verschleudern. Multinationale Konzerne kaufen die Firmen und siedeln in diese Ländern um, aufgrund der dortigen Lohn- und Preisstruktur. Für diese Konzerne wird es zunehmend günstiger, dort zu produzieren, als in ihren Herkunftsländern. Aber es geht ihnen auch um den günstigen Erwerb von Produktionsanlagen und -kapazitäten: für die Produktion und Raffination von Zucker, für die Förderung und Verarbeitung von Öl oder Gas, für die Gasverflüssigung oder die Förderung von Erz. Es wird verschleudert, was die lokale Wirtschaft Jahre gekostet hat. DRITTE MASSNAHME: WÄHRUNGSABWERTUNG Währungsabwertung bedeutet für die Länder, die bereits arm sind, dass sich alle importierten Waren plötzlich in dem Masse verteuern, in dem der Wert der Währung sinkt. Als der CFA-Franc plötzlich nur noch die Hälfte wert war, Anfang der 90er Jahre, besass ein Drittel Afrikas oder mehr, das diese Währung hatten, von einem Tag auf den anderen nur noch die Hälfte seiner Kaufkraft. Ihr Lohn, der ihnen bisher einen gewissen Lebensstandard sicherte, reicht jetzt nur noch für die Hälfte. Das ist eine plötzliche Inflation von 100%. Hinzu kommt, dass Halbfertigerzeugnisse, Fertigerzeugnisse, raffinierte Produkte, also alles, was in dieser Region Afrikas aus dem Ausland importiert wird, durch die Abwertung des CFA-Francs plötzlich doppelt so teuer ist. Hinzu kommen auch die lokalen Auswirkungen dieser Abwertung. Alle Produkte und Dienstleistungen werden um ein Vielfaches teurer. Aber wirklich über Nacht! Und die Zeit tut noch das Ihrige. Denn alles, was aus importierten Halbfertigerzeugnissen hergestellt wird, oder was importierte Bindemittel, Leim, Lösungsmittel oder Farbe erfordert, wird auf längere Sicht, nach mehreren Monaten ebenfalls um ein Vielfaches teurer sein. VIERTE MASSNAHME: NEUORIENTIERUNG DER NATIONALEN WIRTSCHAFT AUF DEN EXPORT Wenn wir betrachten, wie sich die Verpflichtung dieser Länder, in denen IWF und Weltbank eingreifen, vermehrt für den Export zu produzieren, auswirkt, sehen wir, dass diese Länder zu Konkurrenten werden. Die Kaffee produzierenden Länder werden mehr Kaffee produzieren, das gleiche gilt für Kakao oder Öl. Bauxit ... Ich weiss nicht ... Zucker, Weizen ... Alle Basisprodukte ... ... unterliegen einem Preisverfall aufgrund der Überproduktion. Die Preise fallen, die Länder werden zu Konkurrenten, und hinzu kommt die Inflation durch besagte Währungsabwertung sowie die automatische Verteuerung aller importierten Produkte. Wir beobachten also eine Umkehrung der Interessen dieser Länder, denen man angeblich helfen will. Und zwar schon deswegen, weil alles, was sie importieren, immer teurer wird und ihre Exporte immer weniger einbringen. Sie geraten in eine Schuldenspirale, so dass heute, im Jahr 2002, allein die Zinslast der ärmsten Länder ... Ich spreche von Ländern wie Bangladesch, Ruanda, Burundi, Togo und solchen Ländern, die bereits bei minus 250% liegen. Nur die Zinsen können da 600 Mal höher als die Erlöse aus dem Export sein. FÜNFTE MASSNAHME: ANPASSUNG DER PREISE Diese Massnahme beinhaltet Folgendes: keine Subventionen mehr für Grundbedürfnisse, also für das Wohnungs- und Gesundheitswesen, für Öl, Reis ... ... Transport und dergleichen. Dadurch sollen die Preise entzerrt werden. Was bedeutet das? Das heisst, dass sich die Preise gemessen am Dollar weltweit angleichen. Wenn Sie mit Dollar verreisen, so wie ich als Kanadier, kosten Produkte und Dienstleistungen überall etwa gleich viel. Sei es in Cotonou in Benin, einem der ärmsten Länder der Welt, in Chicago, in New York oder Paris. Ihr Zimmer im Holiday Inn, im Sheraton, Ihr Essen im Holiday Inn kostet in Dollar überall ungefähr gleich viel. Aber in Cotonou, der Hauptstadt Benins, einem der ärmsten Länder der Welt, kostet eine Nacht im Sheraton, wo ich dann schlafen würde, so viel, wie ein Beamter in Benin in sechs Monaten verdient. Für ein Essen im Restaurant dieses Hotels in Cotonou müsste ein kleiner Beamter in Benin eine Woche arbeiten. SECHSTE MASSNAHME: OFFENHEIT FÜR INVESTITIONEN UND ANPASSUNG DER LÖHNE Diese Massnahme lässt sich im Prinzip auf eine einfache Formel reduzieren: Die Löhne werden an die niedrigsten Löhne einer Branche angenähert. Und zwar ... ... in Übereinstimmung mit der sogenannten Liberalisierung des Handels. Zur Erklärung: Durch ein Abkommen wie das NAFTA, das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko, USA und Kanada, werden die Löhne vom Niveau der USA auf das Niveau von Mexiko sinken. Weil Wettbewerb unter den Arbeitern Mexikos, Kanadas und der USA herrscht. Bei Standortverlagerungen heisst es: Das NAFTA schafft Arbeitsplätze in Mexiko. Das heisst ... ... etwa sechs oder sieben Jahre nach dem NAFTA ... ... sind die Löhne in der Gegend um Leôn, im Norden von Mexiko, wo sich die US-Konzerne niederliessen ... Wobei es in den USA Entlassungen gab. Es wurden Arbeitsplätze abgebaut, die im mexikanischen Vergleich sehr gut bezahlt waren, um in Mexiko „Arbeitsplätze zu schaffen", bei weitaus niedrigerer Bezahlung. In den letzten fünf Jahren sind die Löhne in dieser Region, der reichsten Region Mexikos, in der sich die US-Konzerne ansiedelten, dort sind die Löhne und damit die Kaufkraft um 23% gesunken. Das heisst, vor fünf Jahren konnte ein Arbeiter bei General Motors im Norden Mexikos eine Familie mit zwei Kindern ernähren. Heute kann dieserArbeiter nicht einmal für sich selbst sorgen, selbst überleben. Und nun, kurz vor dem Gipfel, der im Norden von Mexiko stattfindet, wird in Monterrey eine Mauer gebaut, damit man die Elendsviertel nicht sieht. Eine drei Meter hohe und kilometerlange Mauer soll die Armut vor den Gipfelteilnehmern verbergen. Das steckt dahinter. Die Löhne werden auf das niedrigste Niveau einer Branche gesenkt. Und da die modernen Branchen, wie Informatik oder Elektronik, zunehmend auch in der Dritten Welt betreibbar sind, gibt es Fluggesellschaften, wie Swissair, glaube ich, oder Firmen aus der Stahlindustrie und so weiter, die alles, was mit Buchhaltung, Finanzen und IT zu tun hat, nach Bombay verlegen. Ein Buchhalter, der dort die gleiche Arbeit wie ein Buchhalter in der Schweiz oder in Kanada macht, kostet 100 Mal weniger. Jemand, der ein Lufftahrtprogramm erstellt, kostet 200 Mal weniger. Und so weiter. Das ist die Anpassung der Löhne. Was mich dabei stört, ist, dass alles zusammengenommen, die Währungsabwertung, die Exporte, die Schulden, Privatisierung, Kürzung der Staatsausgaben, was zu Entlassungen, zu Arbeitslosigkeit führt ... Das alles in Verbindung mit der Preis- und Lohnanpassung führt zur aktuellen Lage: Die reichen Länder sind unendlich reich, und die armen Länder sind unendlich arm. Ich bin bestürzt darüber, dass der IWF und die Weltbank in Argentinien genau das wiederholen wollen, was die argentinische Wirtschaft zugrunde gerichtet hat. So, als wären wir unbelehrbar. Und das ist nicht ohne Grund so. Es gibt ein Interesse daran, dass diese Ideologie, die die Welt erklärt, so lange besteht, wie der gesamte Planet in diesem Sinne verwertbar ist. Beim Internationalen Währungsfonds wird das Stimmrecht innerhalb des Gouverneursrates ausgeübt. Dieses Stimmrecht basiert auf ... ... der finanziellen Partizipation, dem finanziellen Beitrag der einzelnen Staaten. Sie sind die Aktionäre des IWF. So ist es auch bei der Weltbank. Das ist nicht wie bei der UNO. Und die Hauptaktionäre des IWF sind natürlich die Vereinigten Staaten, Deutschland, Japan, Grossbritannien, Frankreich. Aber am Ende ist das nur ein Aspekt, denn neben der politischen Repräsentation in einer zwischenstaatlichen Organisation geht es um andere Belange: Das sind die Korridore ... Es geht um die Zuspielung von Macht zwischen der Wall Street und Washington, um die Verbindungen zwischen IWF und den Thinktanks, der Heritage Foundation, dem Brookings Institute. Die Staatskasse der USA ist involviert, die US Federal Reserve. All das bildet den sogenannten „Washington Consensus". Es ist ein Machtpoker. Im Jahr 2005 kommt Paul Wolfowitz, einer der radikalsten Ideologen der imperialistischen Politik und Kriegstreiberei von Präsident Bush, vom Verteidigungsministerium direkt an die Spitze der Weltbank. Diese Ernennung, die jegliche Zweifel an den tatsächlichen Zielen der Weltbank ausräumt, enthüllt das wahre Gesicht der Institutionen von Bretton Woods. KONFERENZ VON BRETTON WOODS, MOUNT WASHINGTON HOTEL, 1944 Nach dem Krieg kam es natürlich zur Gründung des IWF und der Weltbank. Nach John Maynard Keynes, dem Architekten dieser Institutionen, fehlte aber noch ein dritter „Gauner", eine dritte Organisation, also eigentlich die Welthandelsorganisation. Aber das wollten die Amerikaner nicht. Also wurde als Ausweichlösung das GATT ins Leben gerufen, das „General Agreement on Tariffs and Trade". Es wurde 1947 abgeschlossen und hatte die Senkung der Zölle für Industrieerzeugnisse zum Ziel. Das GATT erfüllte seinen Zweck, denn in den 50 Jahren seines Bestehens kam es immerhin zu beachtlichen Senkungen der Zölle, von durchschnittlich 40% bis 50% auf 4% oder 5%. Aber das betraf nur die industriellen Erzeugnisse. Dadurch wurde die Notwendigkeit gesehen, vor allem auf Seiten der transnationalen Finanzunternehmen, eine Organisation ins Leben zu rufen, die viele andere Bereiche umfasste als nur industrielle Erzeugnisse. Und deshalb wurde am Ende der Uruguay-Runde, der letzten Welthandelsrunde im Rahmen des GATT, die Entscheidung für die Gründung der Welthandelsorganisation gefällt, die am 1 . Januar 1995 in die Tat umgesetzt wurde. Dabei wurden zahlreiche Abkommen miterfasst, nicht nur das GATT, sondern auch das Landwirtschaftsabkommen, das TRIPS-Abkommen über geistiges Eigentum, das Allgemeine Dienstleistungsabkommen, das sehr umfassend ist und elf Hauptbereiche und 160 Unterbereiche einschliesst. Dadurch unterliegen sämtliche menschliche Aktivitäten ... ... den GATT-Regelungen, von Bildung über Gesundheit, Kultur bis hin zur Umwelt. Dann gibt es noch andere technische Abkommen, die zumindest technisch erscheinen, aber eigentlich sehr politisch sind: das Abkommen über technische Handelshemmnisse, über Gesundheits- und Pflanzenschutz. Das sind Abkommen über Normen, die die Mitglieder, also die Staaten, umsetzen können. Diese Normen sind im Grunde genommen technische Handelshemmnisse. Das vielleicht weniger bekannte und doch wichtigste Abkommen ist der Beschluss des Streitschlichtungsverfahrens, das ein sehr mächtiges rechtliches Instrument der WTO darstellt. Damit kann sie Streitigkeiten zwischen Mitgliedern beilegen und Recht sprechen. Wer urteilt also? Das weiss man nicht genau. Es sind von Listen ausgewählte Experten. Die Länder können Personen für diese Listen vorschlagen. Meistens sind es Privatpersonen, Wirtschaftsanwälte oder manchmal auch ehemalige Geschäftsführer. Aber ihre Namen sind unbekannt. Sie treffen sich im Geheimen, meist zu dritt. Sie entscheiden recht schnell. Es kann Widerspruch eingelegt werden, aber die Bedingungen sind dieselben: Es ist ein neues Gremium, und es wird im Geheimen entschieden. Über dieses Streitschlichtungsgremium muss man wissen, dass es zugleich ... ... gesetzgebende, rechtsprechende und ausführende Gewalt ist, denn es spricht Urteile aus und stellt eine Rechtsprechung auf. Es stellt sich über alle Gesetze, welche die Rechtsprechungen der einzelnen Länder beschlossen haben, aber auch über Internationales Recht, das in 50 Jahren mühsam erarbeitet wurde. Die Menschenrechte, multilaterale Umweltabkommen, die grundlegenden Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation. All das ist hinfällig. Die WTO fällt Entscheidungen, die besagen: „Der Handel steht über allem. Von euren Umweltabkommen wollen wir nichts hören." Und die WTO hat die ausführende Gewalt, denn sie kann Sanktionen anordnen. Ist ein Land nicht einverstanden mit dem Urteil, heisst es: „Gut! Dann ändert ihr eure Gesetze eben nicht, sondern ihr zahlt. Jedes Jahr. Und zwar in Form von Zöllen, die euer Gegner im Streitschlichtungsverfahren festlegt." Wenn die USA entscheiden, in Europa Zölle anzuordnen, für Frankreich, auf Stopfleber, Senf und Roquefort, dann ist das ihr gutes Recht. Das wird teuer, und nur wenige Länder können diese jährlichen Einschnitte verkraften. Bei der WTO werden mehrere Verhandlungen gleichzeitig geführt. Ein Land, das keinen Botschafter in Genf hat oder sich einen mit anderen Ländern teilt, was bei den afrikanischen Staaten oder den Kleinststaaten der Fall ist ... ... dann ist es diesem Land unmöglich, die Verhandlungen zu verfolgen. Das heisst, der Süden ... ... ist nicht umfassend informiert. Ein Botschafter aus dem Süden sagte einmal: „Die WTO ist wie ein Multiplex-Kino. Man muss sich für einen Film entscheiden." Also wählen sie das aus, was ihnen für ihr Land wichtig erscheint. Wer entscheidet also wirklich? Man spricht von einem Konsens. In der WTO wurde noch nie abgestimmt. Ein Botschafter der USA sagte mal, eine Abstimmung wäre ein schlechter Präzedenzfall. So viel zum Thema Demokratie. In Wahrheit hat die Vierer-Gruppe das Sagen: Kanada, die USA, die Europäische Union und Japan. Sie treffen sich ständig, haben sehr viel Personal bei der WTO und finden ihren eigenen Konsens. Dann kommen sie in die Plenarsitzung und sagen: „lhr seid doch einverstanden, oder?" Es ist sehr schwer für die Länder des Südens, Nein zu sagen. Das erfordert viel Mut und Überzeugung. Denn die Druckmittel gegen sie sind vorhanden. Da darf man sich nichts vormachen: Wenn Sie vom IWF abhängig sind oder wenn Sie Probleme mit den USA haben, dann dürfen Sie nicht allzu sehr aus der Reihe tanzen. Gewiss sind die Finanzmärkte und die Institutionen von Bretton Woods zu den privilegierten Instrumenten des neoliberalen Eroberungsfeldzuges geworden. Aber es gibt noch immer Länder, die sich hartnäckig weigern, sich diesem erzwungenen Markt hinzugeben. Und genau dann wirft der Kolonialismus seine neuen Kleider ab und präsentiert sich in seiner alten Kriegsmontur. Angefangen beim auseinanderbrechen Jugoslawien über den Darfur-Konflikt bis hin zum Afghanistankrieg: Die Konflikte aus der Zeit nach dem Kalten Krieg werden von ganz anderen Interessen bestimmt, als es uns die westliche Propaganda unter der Überschrift eines „neuen militärischen Humanismus" darlegt. Die Kontrolle von Ressourcen, aber auch von Geldflüssen und von geostrategischen Räumen, sowie das Diktat des IWF, der Weltbank und der WTO festigen die Herrschaft der grossen Konzerne und der Grossanleger über den gesamten Planeten. Zudem haben die von den Eroberern eingesetzten Kolonialregierungen die Dogmen der neoliberalen Ideologie zügig umgesetzt. Die Einkesselung ist vollführt. 10. NEOLIBERALISMUS ODER NEOKOLONIALISMUS? 10. NEOLIBERALISMUS ODER NEOKOLONIALISMUS? DIE DRUCKAUSÜBUNG DURCH DEN MILITÄRISCHEN HUMANISMUS ODER „KRIEG IST FRIEDEN" Das Abkommen von Dayton wurde 1995 auf einer US-Militärbasis unterzeichnet. Wenn man die Texte des Abkommens durchsieht, taucht da die Verfassung von Bosnien-Herzegowina im Anhang des Dayton-Abkommens auf. Sie wurde von amerikanischen Beratern und Rechtsanwälten geschrieben. Die versammelten sich und verfassten ein so wichtiges Dokument, und zwar ohne eine Verfassungsgebende Versammlung der Bürger in Bosnien-Herzegowina. Und in dieser Verfassung, die von den Vereinigten Staaten aufgesetzt wurde, gibt es diesen Artikel: Die Zentralbank von Bosnien-Herzegowina fungiert nicht als Zentralbank, sondern als Ausgabestelle, Currency Board genannt, also eigentlich eine Kolonialbank, die keine Möglichkeit zur Geldschöpfung hat. Das heisst, sie ist ihren externen Gläubigern völlig ausgeliefert. Das ist das Modell, das es zur Zeit in Argentinien gibt. Zudem besagt diese in Dayton entstandene Verfassung von Bosnien-Herzegowina, dass der Internationale Währungsfonds den Präsidenten der Zentralbank von Bosnien-Herzegowina ernennt. Dieser darf ... ... kein Bürger Bosnien-Herzegowinas oder eines Nachbarlandes sein. Mit anderen Worten: Man sieht, dass diese Verfassung, die einfach angefertigt wurde und die keine bürgerliche Grundlage in Bosnien-Herzegowina hat, eine Kolonialregierung einrichtet. So nennen wir das natürlich nicht. Es ist die Internationale Gemeinschaft. Aber letzten Endes sieht man, dass alle ... ... dass alle Verwaltungsstrukturen von Ausländern beherrscht werden. Ausländer bestimmen über die Etats, eine Währungspolitik gibt es erst gar nicht. Und trotzdem wird das Abkommen von Dayton heute von der sogenannten Internationalen Gemeinschaft als Antwort auf die Probleme verschiedener Länder präsentiert. Sie wollen sogar dasselbe Modell für die Verwaltung, eine Kolonialverwaltung, in Ländern wie Mazedonien oder Jugoslawien einsetzen. Eigentlich sprechen wir über ein Mosaik, ein Mosaik von Protektoraten. „Militärischer Humanismus" ist ein schöner Begriff, der Nötigung, Eroberung und Unterdrückung verschleiern soll. Aber das einzig Neue ist der Begriff. Wenn man in die Geschichte blickt, dann wurden Eroberungen, Imperialismus, Unterdrückung und Gewalt fast immer in humanistische Worte gefasst. Die Franzosen verwirklichten eine „zivilisatorische Mission", während ihr Kriegsminister zum Völkermord in Algerien aufrief. Die Briten brachten den Barbaren in Indien selbstlos die Zivilisation, wobei sie dann das weltweit grösste Drogenimperium schufen, um auf chinesische Märkte vorzustossen, während sie von Freihandel redeten. In den USA heisst das „American exceptionalism". Wir sind so edelmütig, keiner ist wie wir. Jedes andere mächtige System behauptet dasselbe von sich. Aus der Zeit, als die Japaner die Mandschurei in Nordchina eroberten, gibt es Dokumente, denn sie wurden ja erobert, die nur so vor humanistischer Rhetorik strotzen. Sie würden ein Paradies auf Erden erschaffen und Japan sei so selbstlos ... ... sich für das Wohl anderer Menschen aufzugeben. Es gab da vor Kurzem einen interessanten Artikel in The Globe and Mail, von einem russischen Emigranten, der Soldat in Afghanistan war. Er lebt heute in Kanada und verglich ... ... die Beschreibung der russischen Invasion in Afghanistan mit jener der US-Invasion im Irak und in Afghanistan, am Beispiel kanadischer Truppen in Afghanistan: nahezu dasselbe. Er war selbst Soldat, und alle glaubten daran, dass sie den armen Menschen in Afghanistan helfen würden, dass sie, bedrängt von den vom ClA ausgebildeten Terroristen, sich für medizinische Versorgung einsetzten, für Frauenrechte und so weiter. Und sie schafften es nicht wegen der enthemmten Terroristen, was ja zum Teil auch stimmt. Aber das ist etwa die Art, wie Kanada seine Mission in Afghanistan beschreibt, wie die Irak-Mission beschrieben wird. Das ist beinahe universell. Jetzt heisst es „militärischer Humanismus". Der Neoliberalismus soll reine Wirtschaft sein, aber wenn man genau hinsieht, wird klar, dass es ein Machtspiel der multinationalen Konzerne und einiger Staaten ist, die sich für deren Interessen einsetzen. Eigentlich ist es Neokolonialismus, es heisst lediglich anders. Das zieht sich durch die Geschichte. Hätten wir Dokumente von Attila, dem Hunnen, wären sie wahrscheinlich voll von tugendhafter Rhetorik. BABELFISCH TRANSLATIONS Untertitel: Melanie Molnàr Ripped & srt: Tokadime