Eine Begegnung mit einem riesigen Menschenfresser, einer Zauberin, die Menschen in Schweine verwandelt, ein verschollener König, der seinen Thron zurück will. Für sich alleine sind dies schon spannende Geschichten, aber jede davon ist nur eine Episode der "Odyssee", einem epischen Gedicht mit 12 000 Zeilen voll antiker griechischer Mythologie. Wie können wir einen derart umfangreichen Text verstehen, der aus einer fernen Welt stammt und deren Geschichten erzählt? Dass wir die "Odyssee" überhaupt lesen können, ist schon ein kleines Wunder, da sie schon vor dem griechischen Alphabet im 8. Jahrhundert entstand. Sie wurde für Zuhörer und nicht Leser geschaffen und von Sprechdichtern, Rhapsoden genannt, vorgetragen. Die Tradition nennt als Autor einen Blinden namens Homer. Aber niemand weiß wirklich, ob er echt oder erfunden ist. Er wird zum ersten Mal Jahrhunderte nach seiner Zeit erwähnt. Die angeblich von ihm stammenden Gedichte wurden von anderen Autoren oft verändert und neu geordnet, bevor sie schließlich in ihrer jetzigen Form aufgeschrieben wurden. "Rhapsode" bedeutet eigentlich "zusammennähen", da diese Dichter bestehende Geschichten, Witze, Mythen und Lieder zu einer einzigen Geschichte kombinierten. Um diese langen Epen vortragen zu können, verwendeten Rhapsoden ein stabiles Versmaß sowie Gedächtnisstützen, wie Wiederholungen von bestimmten Passagen. Diese enthielten Beschreibungen der Landschaften oder Charaktere und halfen den Rhapsoden, sich im Gedicht zurechtzufinden, so wie der Refrain eines Lieds uns hilft, uns an die Strophen zu erinnern. Weil die Zuhörer die meisten Geschichten schon kannten, wurden die Strophen oft durcheinander aufgesagt. Irgendwann wurde die Reihenfolge endgültig festgelegt und die Geschichte wurde zu der, die wir heute kennen. Aber da sich die Welt in den letzten paar tausend Jahren etwas verändert hat, hilft es, den Hintergrund zu kennen, bevor man damit anfängt. Die "Odyssee" ist die Fortsetzung von Homers anderem berühmten Epos, der "Ilias", die vom Trojanischen Krieg erzählt. Ein großes Thema verbindet diese Epen: Verärgere auf keinen Fall die Götter! Die griechische Götterwelt, ein Pulverfass aus Macht und Unsicherheit, neigt in höchstem Maße zu Neid, Zorn und Eifersucht. Viele der Probleme der Menschen in diesen Gedichten rühren aus ihrer Anmaßung oder ihrem stolzen Glauben, den Göttern überlegen zu sein. Der Wunsch, den Göttern zu gefallen, war so groß, dass die Alten Griechen traditionell alle Fremden in ihrem Heim großzügig empfingen, weil sie fürchteten, sie könnten verkleidete Götter sein. Diese alte Form der Gastfreundschaft nannte man "xenia". Gästen wurde Sicherheit, Essen und Komfort geboten, und Gäste bedankten sich mit Höflichkeit und Geschenken, wenn sie welche hatten. Die "xenia" spielt eine wichtige Rolle in der "Odyssee", in der Odysseus als ewiger Gast umherwandert, während seine clevere Frau Penelope zuhause ewige Gastgeberin ist. Die "Odyssee" erzählt von Odysseus' jahrelanger Heimreise, aber die Geschichte beginnt mittendrin. Zehn Jahre nach dem Trojanischen Krieg ist der Held auf einer Insel gefangen, weit weg von seiner Heimat Ithaka und seit 20 Jahren von seiner Familie getrennt. Er erzürnte Poseidon, indem er dessen Sohn, einen Zyklopen, blendete. Deshalb geschieht auf Odysseus' Heimreise ein Unglück nach dem anderen. Während zuhause Ärger droht und die Götter sein Schicksal beraten, beginnt Odysseus, seinen Gastgebern von den verlorenen Jahren zu berichten. Das Faszinierendste an der "Odyssee" ist, dass wir so wenig von jener Zeit wissen, aber der Text viele Details enthält. Historiker, Sprachwissenschaftler und Archäologen haben Jahrhunderte nach den Ruinen Trojas gesucht und die Inseln, die Odysseus besuchte, ausfindig gemacht. Wie sein Held ist das 24 Bücher lange Epos selbst durch Jahrhunderte von Mythen und Geschichten gereist, um uns heute seine unglaubliche Geschichte zu erzählen.